Vorwort
zur
ersten Auflage der geordneten Ausgabe
Es war im Jahre 1827, als in meinem seligen Bruder, dem Pfarrer Ludwig Hofacker in Rielingshausen, der Entschluss reifte, eine Reihe von Predigten, die er bereits gehalten hatte und mit Gottes Hilfe noch ferner zu halten hoffte, dem christlichen Publikum im Druck mitzuteilen. Er wurde in seinem Entschluss nicht nur durch die Aufmunterung einiger ihm nahe stehender Freunde, sondern auch durch die Bemerkung bestärkt, dass seine Verkündigung des göttlichen Wortes an manchen Herzen nicht unfruchtbar geblieben war. Zudem mahnten ihn seine Kränklichkeit und eine leise Vorahnung, dass seinem Wirken auf Erden vom Herrn keine weiten Grenzen gesteckt sein möchten, mit der Ausführung seines Entschlusses zu eilen. Er sagte deswegen in der Vorrede zum ersten Heft, das am Schluss des Jahres 1827 wirklich erschien: „Hin und wieder ein Steinchen zum Bau Zions herbeizutragen, und das so schnell als möglich, weil eine Zeit kommt, wo niemand wirken kann , dies ist meine ganze Absicht. Ob dieses Steinchen etwas tauge, das kann eigentlich nur der Baumeister recht beurteilen."
Über den Hauptzweck, den er sich bei Mitteilung dieser Predigten gesetzt hatte, äußert sich der Selige ebendaselbst kurz und einfach so: „Ein zustimmender Leser wird finden, dass es mir allenthalben um biblische Wahrheit zu tun ist. Ich mache aber, ob ich gleich durch Gottes Gnade meines Glaubens gewiss bin, durchaus keine Ansprüche auf Unfehlbarkeit. Das Wort Gottes allein ist unfehlbar. Ich möchte auch niemand ärgern noch meine Überzeugung jemand aufdrängen. Ich will auch nichts Neues geben, sondern die alte Wahrheit. Dass ich den Ruhm eines Redners nicht suche, zeigt ein oberflächlicher Blick in diese Predigten. Mein Sinn ist: Etwas zu tun zur Beförderung des Reiches meines Heilandes, der mich aus den tiefsten Sümpfen des Unglaubens und der Sünde kräftig herausgerissen hat. Ich vertraue dabei auf den Gott, der sich aus dem Munde der Unmündigen ein Lob zu bereiten und das, was aus der größten Schwachheit geflossen und mit Fehlern überdeckt ist, oft am meisten zu segnen pflegt. Wenn in dieser hinsichtlich biblischer Begriffe verwirrten Zeit hie und da eine Seele durch diese paar Blätter sollte auf das Reich Gottes aufmerksam gemacht oder in ihrem Glauben befestigt werden, so ist meine Absicht erreicht. Dieser Segen aber hängt vom Herrn ab. Darum befehle ich Ihm die Sache."
Mehrere Gründe bestimmten meinen seligen Bruder, vorerst nur den Versuch mit einer kleinen Sammlung von zehn Predigten zu machen. Warten, bis er einen vollständigen Jahrgang Predigten über die gewöhnlichen Evangelien zusammengebracht hätte, wollte er nicht, und einen Jahrgang früher schon gehaltener Vorträge mitteilen wollte er auch nicht, denn er sagte: „Da ich durch Gottes Gnade in der Erkenntnis Jesu Christi vorwärtszuschreiten hoffe, so gebe ich immer lieber Neues.“ Jedoch äußerte er dabei den Wunsch, mit Gottes Hilfe in der Zukunft noch weitere Hefte nachfolgen zu lassen, wenn anders das erste gehörig Zuspruch fände. „So könnte", sagte er, „nach und nach, wenn Gott Leben, Mut und Kraft schenkt, ein ganzer Jahrgang vollendet werden. Da ich aber meiner Umstände wegen nicht im Stande bin, Sonn- und Festtagspredigten in fortlaufender Reihe zu liefern, so würde eben zuletzt ein Register das Ganze in Ordnung bringen müssen. Dies sind meine Gedanken; ob es auch die Gedanken des Herrn sind, wird die Zeit lehren."
Auf ähnliche Weise ließ er, schon erkrankt, im Sommer 1828 das zweite Heft mit zwölf Predigten nachfolgen. Zum dritten Heft hatte er schon einige Predigten zum Druck ins Reine geschrieben, als der Herr ihn mit einer abermaligen schmerzlichen Krankheit heimsuchte und seinem Wirken durch einen frühen, aber seligen Tod ein Ziel setzte. Seine in den zwei ersten Heften mitgeteilten Predigten haben aber beim christlichen Publikum so großen Eingang gefunden, auch ergingen so viele dringende Aufforderungen an mich, aus den Papieren des Seligen noch ferner eine Reihe Predigten mitzuteilen, um, wo möglich, einen ganzen Jahrgang zusammenzubringen, dass ich nicht umhin konnte, den Willen des Herrn darin zu erkennen und, dem Rat meiner und meines seligen Bruders Freunde gemäß, auf die angefangene Weise noch weitere fünf Hefte von Predigten des Seligen dem Druck zu übergeben. Weil es jedoch an Predigten über die gewöhnlichen Evangelien mangelte, so nahm man Predigten über die Episteln zu Hilfe, und wenn für einige Sonntage und Feiertage weder Evangelien- noch Epistelpredigten gegeben werden konnten, so folgten Predigten über andere Texte zum Ersatz. Zum Schluss wurden einige Grabreden des Vollendeten mitgeteilt. Der kurze Lebenslauf, den der Selige selbst verfasste und seiner Gemeinde vorlas, soll den Lesern einen Blick in die inneren und äußeren Führungen dieses Dieners am Evangelium eröffnen. Jedoch, da die ungeordnete Reihenfolge, in welcher die Predigten bisher erschienen waren, manches Unbequeme hatte, so wurde von vielen Seiten mir der Wunsch nahe gelegt, diese Predigtsammlung, die im In- und Ausland so segensreich gewirkt und eine so ausgezeichnet günstige Aufnahme gefunden hatte, geordnet und in einem Bande vereinigt abermals ans Licht treten zu lassen. Und so erscheint nun dieser Herold der evangelischen Wahrheit, um aufs Neue durch die Welt zu schreiten und seine Stimme erschallen zu lassen: „Bereitet dem Herrn den Weg!" Aber nicht bloß als ein zweiter Abdruck der ersten Auflage erscheint dieses Werk; sondern verbessert und vermehrt betritt es abermals die Bahn. Zwei Bußtagspredigten und eine Predigt für den 26. Sonntag nach Trinitatis wurden hinzugefügt, und gewiss wird allen Lesern eine erwünschte Zugabe das Gedicht sein, mit welchem einer der vertrautesten Freunde meines seligen Bruders, Herr Oberdiakon A. Knapp in Kirchheim, die Schläfe des zu seiner Ruhe eingegangenen Kämpfers wie mit einem lieblichen Siegeskranz umwunden hat. Hat ein David seinen geliebten Jonathan in wehmütig mildem Trauerlied besungen, warum sollten nicht auch die Streiter des Neuen Bundes ihren Gefallenen ein Denkmal auf den Grabhügel setzen zum Zeugnis an die Welt: Hier ruht ein Gerechter. Wanderer, geh hin und folge seinem Glauben nach!
So begleite denn Gottes Segen die hier mitgeteilten, oft in großer Schwachheit gesprochenen Worte seines Dieners! Er lasse aus dieser Aussaat des Vollendeten eine reiche Freudenernte emporwachsen; Er lasse die Stimme des Seligen, der die erlösten Seelen mit großem Ernst und Nachdruck stets zur Buße und zu Christus rief, fernerhin gesegnet wandeln in der Gemeinde und viele zum Leben und zur Gerechtigkeit weisen, auf dass, wie der Lehrer, so der Hörer und Leser sich einst gemeinschaftlich freuen vor dem Thron Dessen, dem allein Ehre und Ruhm gebührt in Ewigkeit.
Wilhelm Hofacker
Repetent und Stadtvikar
Zur zehnten Auflage
Ein wunderbarer Segen hat bisher dieses Predigtbuch meines seligen Bruders begleitet; durch die ausgedehnte Verbreitung desselben ist dem früh Entschlafenen ein weit größerer Wirkungskreis zuteil geworden, als er je auch beim längsten Leben für sein mündliches Zeugnis von Christus hätte erwarten können. Der Herr hat ihn auch jetzt noch seiner Kirche gesetzt, dass er hingehe und eine Frucht fürs ewige Leben bringe.
Die Erweiterung, die sein Lebensbild in dieser zehnten Auflage erfahren hat, wird gewiss allen Lesern eine erwünschte Zugabe sein, zumal da sie hier größtenteils den Seligen selbst über seine inneren und äußeren Lebenserfahrungen in einer Auswahl seiner Briefe sich aussprechen hören. Der treue Jugendfreund meines seligen Bruders, Pfarrer Roos in Steinenbronn, hat eine nicht geringe Anzahl derselben mit viel Sorgfalt gesammelt und geordnet und diese Sammlung mir zu geeigneter Benutzung freundlich überlassen, wofür ich mich ihm zu besonderem Dank verpflichtet fühle. Zwar ist der größte Teil dieser Briefe bereits auch in das ausführlichere Lebensbild verwoben, das unser gemeinschaftlicher Freund, der als geistlicher Dichter und Schriftsteller rühmlich bekannte A. Knapp, in der „Christoterpe" von dem Entschlafenen mit so viel Liebe entworfen und einem weiteren Leserkreis dargeboten hat. Ich konnte es mir aber dessen ungeachtet nicht versagen, wenigstens einige derselben gerade dem Buch einzuverleiben, durch das der Selige, obwohl gestorben, auch fernerhin zum Segen für so viele zu reden und zu zeugen berufen ist. In die geheime Werkstätte des erziehenden Geistes Christi zu schauen, bietet dem gläubigen Herzen stets einen hohen Genuss, bei welchem mannigfaltige Belehrung und Erbauung nicht ausbleibt; wie viel mehr bei einem so lauteren und offenen Charakter, dem man, wie es bei dem Verewigten der Fall war, auf den tiefsten Grund der Seele sehen kann. Möge diese Zugabe manchen Leser in der Erkenntnis der inneren und äußeren Wege Gottes, die meistens Demutswege sind, fördern und die eigene Führung im Lichte einer fremden besser verstehen lehren!
Gnade sei mit allen, die da unseren Herrn Jesus Christus unverrückbar lieb haben!
Wilhelm Hofacker
Diakon an der St. Leonhardskirche
Zur siebzehnten Auflage
Unter den Papieren meines im August 1848 heimgegangenen jüngsten Bruders Wilhelm (Diakon in Stuttgart) fand sich eine Anzahl unbenutzter, von unserem seligen Ludwig geschriebener und danach gehaltener Predigten. Herr Stadtpfarrer A. Knapp, der Verfasser seiner erweiterten Lebensbeschreibung (Heidelberg 1852), hatte die Güte, acht auszuwählen, wovon fünf aus der Vikariatszeit in Plieningen, drei aus der ersten Zeit des Auftretens in Stuttgart herrühren. Wenn auch diese wörtlich abgedruckten Erstlinge den späteren ins Predigtbuch aufgenommenen nicht ganz gleichkommen mögen, und wenn auch Ludwig selbst sich zu deren Herausgabe nicht entschließen mochte (Mitteilungen aus seinem Leben, S. 47), so dürften sie doch jetzt als Nachlass eines vielen teuer gewordenen Vollendeten und als Beleg seines Entwicklungsganges im Predigtamt eine willkommene Beigabe sein. Sie wurden daher dem Predigtbuch als unentgeltlicher Anhang beigefügt und können auch gesondert gegen eine unbedeutende Druckvergütung bezogen werden.
Möge unser hochgelobter Herr und Heiland, welcher bisher einen so wunderbaren Segen auf das Predigtbuch legte, einen Widerschein davon auf diesen Nachtrag fallen lassen!
Dr. Carl Hofacker
Präsident des Kassationshofes
Mitteilungen
aus dem
äußeren und inneren Lebensgang des seligen Verfassers
Nachstehendes Lebensbild verfasste und verlas der Verewigte selbst bei seiner Einsegnung als Pfarrer in Rielingshausen zwei Jahre vor seinem Tod:
„Ich schreibe nicht gerne meinen Lebenslauf. Ob er gleich ein fortlaufender Beweis der Treue und der besonderen Aufsicht Gottes ist, so sucht die Eigenliebe doch auch ihre Nahrung dabei. Es wäre mir dem Geiste nach lieber, wenn mein armes Leben ganz vergessen würde. Indessen kann meine Gemeinde verlangen zu wissen, wer ihr Pfarrer und Seelsorger ist, und darum will ich ihr nun die Hauptpunkte meines Lebensganges kurz vorlegen.
Ich bin geboren den 15. April 1798. Mein Geburtsort ist Wildbad, wo mein seliger Vater, der im Jahre 1824 als Stadtpfarrer und Amtsdekan in Stuttgart in seines Herrn Freude eingegangen ist, damals Diakon oder Helfer war. Meine Mutter, die ich so glücklich bin, hier bei mir zu haben, ist Friederike, geb. Klemm. Von 7 Söhnen, die meine Mutter geboren hat, bin ich der dritte; 3 sind schon in früher Kindheit in die Ewigkeit gerufen worden. In der heiligen Taufe erhielt ich die Namen Wilhelm Gustav Ludwig.
Als ich ungefähr 18 Wochen alt war, wurde mein seliger Vater auf die Pfarrei Gärtringen im Herrenberger Oberamt versetzt. In diesem Dorf blieben wir bis in mein 13. Jahr. Mein Vater unterrichtete mich und meine anderen Brüder in der lateinischen Sprache und manchen anderen Wissenschaften mit viel Hingabe und Fleiß.
Im Jahr 1811, als ich 13 Jahre alt war, wurde mein Vater auf die Pfarrei Öschingen, 3 Stunden oberhalb von Tübingen, versetzt. Ich blieb dort bei meinen Eltern bis in das Frühjahr 1812, wo ich von meinem seligen Vater konfirmiert wurde. Bisher war ich für den Beruf des Schreibers bestimmt gewesen, und mein Vater hatte mich eben deswegen unter den alten Sprachen nur in der lateinischen unterrichtet. Als ich aber nach der Konfirmation aus der Kirche nach Hause kam, so richtete mein Vater die Frage an mich, ob ich denn auch wirklich Lust zur Schreiberei habe? Es scheine ihm, ich würde mehr zu einem Pfarrer taugen; doch würde mich der Entschluss, Theologie zu studieren, viel Arbeit kosten, indem ich noch gar vieles würde lernen müssen, wenn ich nur in ein niederes Kloster aufgenommen werden wollte. Ich antwortete ihm, ich wolle Theologie studieren und Fleiß anwenden. Von nun an war ich zum Theologen bestimmt, und ich war in meinen Gedanken schon ein Pfarrer. Mein Vater übergab mich der Leitung und Aufsicht seines Schwagers, des M. Reuß, der damals Rektor am Pädagogium in Esslingen war, nun aber Ephorus am niederen Kloster in Blaubeuren ist. Dieser Mann hat viel an mir getan. Er trieb mich scharf ins Lernen hinein, und nach anderthalbjährigem Aufenthalt in Esslingen wurde ich nach überstandenem Landesexamen in das niedere Kloster Schöntal aufgenommen.
Am 18. Oktober 1813, dem Tage der Schlacht bei Leipzig, traf ich mit meinen Eltern in Schöntal ein. Ich wurde altershalber sogleich in die ältere Promotion aufgenommen und blieb darum nur ein Jahr lang in Schöntal. Im Herbst 1814 kam ich nach Maulbronn, und zwei Jahre nachher, im Jahre 1816, nach Tübingen. Ich lernte in dieser Zeit so mit dem großen Haufen dahin, war auch nicht sehr fleißig, weil ich meistens Studentengedanken im Kopf hatte. So ging es auch in den ersten zwei Jahren, die ich in Tübingen zubrachte. Ich hatte viele Kameraden und war ein Knecht des Zeit- und Studentengeistes. Ich schäme mich dieser Zeit. Ich war weit von Gott weggekommen und steckte in gräulicher Sündenfinsternis. Ich wandelte in einem beständigen Traum. Die Weisheit dieser Welt, die ich begierig in mich sog, hatte mir den Kopf vollends verrückt. So ging ich elendig dahin bis in den Herbst 1818, wo ich die Gottesgelehrtheit studieren sollte.
Schon im Sommer dieses Jahres peinigte mich der Herr oft mit innerer Unruhe über meinen verlorenen Zustand. Aber ich vergaß diese Unruhe wieder und suchte Ruhe, wo sie nicht zu finden ist, in der Welt. Gegen den Herbst hin entstand in mir die Frage: Was ist Wahrheit? Ich war mehrere Systeme der Weisen dieser Welt, so gut ich konnte, durchgegangen und hatte nirgends Grund und Boden gefunden. Ich merkte, dass sich jeder Wahrheit, welche die menschliche Vernunft findet oder zu finden meint, wieder eine andere entgegensetzen lässt, dachte aber: Ich möchte doch auch etwas finden, auf das ich auch leben und sterben, das ich auch glauben könne; ich wollte selbst diejenigen Sätze niederschreiben, die ich für ganz gewiss annehme, und das, meinte ich, sollte dann die Richtschnur meines Wissens und Wandels sein. Ich fing die Sache auch an, kam aber nicht weit, weil in der Vernunft der Glaube nicht liegt. Um diese Zeit fiel mir eine Schrift in die Hände, welche das selige Ende des Hofrats Jung-Stilling, eines treuen Knechtes Christi, beschrieb. Ich dachte: Dieser Mann hat etwas gehabt, das er ohne Zweifel glaubte und auf das er seine Seligkeit setzen konnte. Dies machte mich dem Evangelium geneigter.
Mit diesem Sinn fing ich das Studium der Theologie an. Um die nämliche Zeit kam mein jüngerer Bruder, der hier bei mir ist, nach Tübingen als Student. Er hatte einen Anfang im Christentum gemacht, und durch seinen Eifer wirkte er sehr auf mich. Ich wäre gern ein rechter Theologe geworden, ohne gerade dem Wesen dieser Welt zu entsagen. Aber mein Bruder wollte dieses nicht dulden. Dazu kam eine beständige Unruhe, die ich in meinem Inwendigen fühlte, wenn ich es wieder auf die alte Weise treiben wollte. Und so wurde endlich der Entschluss in mir geboren: Ich brauche Christus, wenn ich nicht zuschanden gehen soll. Ich soll Sein Diener werden; ich will Ihm auch nachfolgen.
Nun las ich die Bibel fleißig, aber meine Finsternis war groß. Ich wurde sehr vom Unglauben geplagt; ich konnte nicht glauben, dass das wahr sein soll, was in der Bibel steht. Ich betete und seufzte viel zum Heiland. Endlich schenkte Er mir die Gnade, dass ich Sein Wort in Einfalt als Gottes Wort annehmen konnte. Aber den Hochmut und die Empörung meines Herzens habe ich in dieser Zeit des Unglaubens tief empfinden müssen. Ich dachte oft: Wenn das, was in der Bibel von einem Heiland steht, nicht wahr ist, so bist du die allerjämmerlichste Kreatur, und doch konnte ich nicht glauben, dass es wahr sein sollte; mein ganzes Herz empörte sich dagegen. Endlich schenkte mir der Herr durch verschiedene Mittel Frieden in dieser Hinsicht.
Ich bekam nun auch neue Bekanntschaften. Meine vorigen Kameraden hatte ich, um dem zukünftigen Zorn zu entgehen, mit dem Rücken angesehen; nun schenkte mir der Herr zwar keine Kameraden mehr, aber Freunde und Brüder. Dies ist mir zu manchem Segen geworden. Es tut meinem Herzen sehr wohl, dass gerade mein vertrautester Freund, der jetzige Pfarrer Roos von Osweil (jetzt Pfarrer in Steinenbronn), heute mir zur Seite stehen kann. Wir studierten und beteten fleißig miteinander; wir saßen zusammen und heckten vieles miteinander aus; wir hielten manches, was wir fanden, für eine Perle, was jetzt nach näherer Prüfung nur ein gemeiner Feldstein ist; wir taumelten miteinander in lauter guter Meinung an den Abgründen der Schwärmerei herum; Gottes Güte ist es, dass wir nicht ganz hinunterstürzten.
Ich hatte einen schweren gesetzlichen Gang in meinem Christentum genommen, welches größtenteils daher kam, weil ich keine Anleitung aus gründlicher Erfahrung heraus hatte, und eine andere wollte ich nicht; denn ich war sehr misstrauisch gegen alle Gelehrsamkeit, die sich nicht unmittelbar auf den Glauben gründete. Indessen schenkte mir der Heiland doch unter alles Treiben des Gesetzes hinein zuweilen eine Stunde, wo ich mich Seiner als meines Heilandes wahrhaftig und herzlich freuen konnte. Nach und nach merkte ich durch Umgang, Gebet und Forschen in der Heiligen Schrift immer deutlicher, auf was es hinausläuft und dass das Wort von der Versöhnung aus Gnade ohne Zutun der Werke die Hauptsache ist.
Nun aber gefiel es Gott, mich einen anderen Weg zu führen, auf dass mir kund würde, was in meinem Herzen ist. Im August 1820 - im September desselben Jahres wäre meine Studienzeit in Tübingen zu Ende gewesen - ging ich einmal an einem warmen Tag mittags 12 Uhr über die Straße und vergnügte mich inwendig an der Treue des Heilandes, an dessen Hand das Leben alle Tage herrlicher und seliger werde, als ich plötzlich das Bewusstsein verlor und niederstürzte. Ich wurde aufgehoben und, als ich wieder das Bewusstsein erlangt hatte, nach Hause gebracht. Die Ärzte erklärten die Krankheit für einen Sonnenstich, es war aber ein durch die Sonne erregtes und herbeigeführtes Nervenfieber. Ich wurde sehr elend und musste vier Wochen lang im Bett bleiben. Nach dieser Zeit brachte man mich nach Stuttgart, wo mein Vater schon seit 1812 erster Prediger zu St. Leonhard war. So endete mein Lauf in Tübingen.
Nach und nach erholte ich mich, und es schien, dass ich mich nun wieder mit einer Arbeit befassen könne. Ich drang mit viel Ungeduld darauf, so bald als möglich ein Vikariat zu beziehen. Und so ging ich dann, bevor ich ganz hergestellt war, nach Stetten im Remstal, wo ich einige Male predigte. Nach sechzehntägigem Aufenthalt in Stetten wurde ich nach Plieningen im Oberamt Stuttgart zu dem damaligen Pfarrer Kielmann, der an einem Schlaganfall litt, beordert. Am 28. November 1820 traf ich dort ein. Ich durfte nur ein Vierteljahr auf diesem Posten sein; denn im Februar 1821 wiederholte sich meine Tübinger Krankheit, zwar nicht mehr mit der vorigen Heftigkeit, aber doch so, dass ich untüchtig zu jeder Arbeit wurde. Dies wollte mir gar nicht gefallen. Ich probierte alles Mögliche; ich betete und flehte, dass doch die Krankheit weichen möchte; ich murrte. Aber der Heiland ließ mich trotz allem Sträuben und Schreien nicht aus meinem Gefängnis. Ich musste in das väterliche Haus zurückkehren, um mich kurieren zu lassen.
Dieses Kurieren ging aber nicht so schnell, als ich mir es eingebildet hatte. Ich wartete von Woche zu Woche und von Monat zu Monat und musste zwei ganze Jahre warten. Wie viel Arbeit kostete es den Geist Gottes, bis Er mir nur begreiflich machte, dass ich ein entbehrliches Werkzeug und dass es Gnade sei, wenn Er mich gebraucht. Es war im Ganzen ein leidliches Gefängnis. Ich konnte aus dem Bett aufstehen und ausgehen, man sah mir nicht viel Krankheit an; aber meine Kopfnerven waren so geschwächt, dass ich eine Ohnmacht befürchten musste, wenn ich nur in ein Buch hineinsah. Schreiben konnte ich ohnehin nichts. Wie viel Ungeduld und Verzagtheit des Herzens ich in diesem Zustand erfuhr, ist nicht auszusprechen. Es ging mir, wie ein gewisser Schriftsteller von sich sagt: „Ich starb fast vor Ungeduld, bis ich nur ein wenig Geduld lernte."
Nach zweijähriger Krankheit fing der Herr wieder an, meine Füße auf freieren Raum zu stellen. Ich konnte wieder kleine Tätigkeiten verrichten. Im März 1823 wurde ich meinem Vater auf seine Bitte als Vikar beigegeben, und da er meistenteils krank war, so musste ich fast alle Sonntage in der St. Leonhardskirche in Stuttgart predigen, welches oft unter großer körperlicher Schwachheit geschah. Dies ging fast zwei Jahre so fort. Ich habe die Überzeugung, dass ich dort nicht ganz vergeblich gearbeitet habe. Dem Heiland allein aber gebührt die Ehre.
Im Dezember 1824 ging mein Vater aus diesem armen Leben im wahren Glauben in die Freude seines Herrn. Nach seinem Tod wurde ich zum Pfarrvikar bei St. Leonhard ernannt. Ich versah aber diesen Posten nicht lange. Im Februar 1825 wurde ich wieder krank, und meine alte Nervenschwäche im Kopf stellte sich abermals ein. Ich verließ meine Arbeit ungern, aber nach dem Ratschluss Gottes sollte ich in Stuttgart nicht mehr predigen, was ich mir im Anfang der Krankheit nicht träumen ließ. Der Arzt wies mich nach Deinach ins Bad. Fast den ganzen Mai brachte ich dort zu, ohne die geringste Besserung zu spüren. Nun kam man auf den Gedanken, ich sollte die Molkenkur in Gais in der Schweiz anwenden. Meine Mutter begleitete mich dorthin. In Gais, das nichts bei mir bewirkte, wiesen uns die Ärzte mit viel Nachdruck zum Sauerbrunnen in St. Moritz in Graubünden, 30 Stunden von Gais, fast an der italienischen Grenze. Wir wollten auf den Finger Gottes achten und durften daher diese ärztliche Anweisung nicht in den Wind schlagen. Nach langer Überlegung beschlossen wir, dorthin zu reisen. Wir blieben drei Wochen dort und kamen im August nach Stuttgart zurück; ich war etwas kräftiger, aber meine Kopfnervenschwäche hatte sich noch nicht gehoben. Es ist mir oft zum großen Trost geworden, was der Herr zu den Kindern Israel sagte: „Ich habe dein Reisen zu Herzen genommen."
Ich hatte mich, ehe ich in die Schweiz reiste, auf Anraten und Bitten meiner Freunde um das Diakonat bei St. Leonhard gemeldet. In St. Moritz erhielten wir die Nachricht, dass es nicht der Wille Gottes gewesen sei, dass ich auf diese Stelle kommen solle. Als ich nun wieder nach Stuttgart zurückgekommen war, meldete ich mich um eine andere Pfarrei, wobei ich den Spuren der Vorsehung sorgfältig folgte. Ich hatte aber große Angst auf eine Anstellung, weil ich besonders auch mein körperliches Unvermögen schwer fühlte.
Endlich brach die in meinem Leibe herumschleichende Krankheit in ein rechtes Fieber aus. Gegen Ende Oktober im Jahr 1825 musste ich mich niederlegen, ich fiel in ein entsetzliches Nervenfieber. Vom November jenes Jahres weiß ich fast gar nichts mehr. Der Arzt hatte mich aufgegeben, aber Gott noch nicht. Nach und nach brach die Krankheit, und ich fing an zu genesen. In welche Tiefe mich hier der Herr gestoßen hat, was ich namentlich auch an der Seele für Angst der Hölle erlitten, das wird mir wohl unvergesslich bleiben. Aber die Liebe, die ich in dieser schweren Zeit in Stuttgart von so vielen Bekannten und Unbekannten erfahren habe, ist und bleibt mir auch unvergesslich. Jesus wolle alles offenbaren und vergelten an Seinem großen Tage!
Dieses Nervenfieber reinigte meine Kopfnerven; als ich genesen war, fühlte ich von der alten Kopfschwäche wenig mehr. Im Februar dieses Jahres (1826) konnte ich wieder anfangen auszugehen. Im darauf folgenden März wurde entschieden, dass ich die Pfarrei, um die ich mich gemeldet hatte, nicht erhalten sollte.
Nun war guter Rat teuer. Wir saßen schon fast ein Jahr lang in Stuttgart. Da ich mich aber nun kräftiger fühlte als zuvor, so war es mir darum zu tun, nach dem Willen des Heilandes in ein Amt und Geschäft zu kommen; ich suchte sorgfältig die Spuren des göttlichen Weges. Endlich schienen diese Spuren nach Rielingshausen zu weisen. Ich hatte Freudigkeit dazu, dessen ungeachtet, dass ich dieses Dorf fast gar nicht kannte. Ich legte dem König meine Bitte vor und setzte noch eine andere Pfarrei in meine Bittschrift mit der ausdrücklichen Bemerkung, dass ich dies deswegen tue, um des Willens Gottes durch die Entscheidung des Königs gewiss zu werden. Er entschied für Rielingshausen. Es hat mich schon oft aufgerichtet, dass ich gewiss weiß: Der Herr hat mich auf diesen Platz geschickt. Was bin ich, Herr, Herr, und was ist mein Haus, dass Du mich bis hierher gebracht hast! Und so stehe ich denn hier. Ich habe hauptsächlich nur das Äußere und von diesem Äußeren nur das Oberflächlichere aus meinem bisherigen Gang durch diese Welt erzählt. Was ich sonst noch den Heiland Geduld, Arbeit, Langmut, raue Wege gekostet habe, das weiß Er am besten, und ich weiß auch etwas davon. Er ist mehr als mütterlich mit meiner Schwachheit verfahren bis auf diese Stunde; Er hat mich ja gesucht, da ich in Finsternis wandelte; Er wird Sein Werk auch vollführen bis auf Seinen Tag. Das weiß ich gewiss, dass ich schon längst in der Hölle wäre, wenn ich keinen barmherzigen Hohepriester hätte. Und das habe ich auch erfahren, dass ich ohne Ihn nichts kann als sündigen; aber das weiß ich auch gewiss, dass Jesus mein Jesus ist. Und wenn mir in der Hitze der Anfechtung auch dieser Trost zuweilen entfallen will, so klammere ich mich doch an Ihn; denn Er ist mein einziger Anker in dem Schiffbruch meines eigenen Verdienstes, den ich täglich erleide. Der Grund, auf den ich gründe, ist Christus und Sein Blut.
Diesen Grund verkündige ich auch und will ihn verkündigen.
Bei diesem Grunde will ich bleiben,
So lange mich die Erde trägt;
Das will ich denken, tun und treiben,
So lange sich ein Glied bewegt;
Dann sing' ich einstens hoch erfreut:
O Abgrund der Barmherzigkeit!
Ich flehe zum Herrn, Er möchte meine ganze Gemeinde diesen Grund finden lassen! Amen."
Bereits war der Verewigte, als er die voranstehende Übersicht über seinen Lebensweg gab, auf der letzten Station desselben angelangt. Nur zwei Jahre hatte er nach dem heiligen Willen Gottes von da an noch hienieden zu pilgern. Ehe jedoch durch eine kurze Geschichte dieser Vollendungszeit das anspruchslose Lebensbild des Seligen geschlossen wird, sei es dem Herausgeber erlaubt, noch ein wenig weiter zurückzugreifen und die eigene Erzählung des Vollendeten durch einige Zugaben zu ergänzen, durch welche sein inneres Glaubensleben namentlich von der Zeit an heller beleuchtet wird, seitdem er in den wirklichen Dienst am göttlichen Wort einzutreten gewürdigt war. Es soll dies zum großen Teil mit seinen eigenen Worten geschehen, indem eine schöne Anzahl ausführlicher Briefe an seine vertrauteren Freunde vorliegt, welchen er seit seinem Abgang von der Hochschule von Zeit zu Zeit seine inneren und äußeren Erlebnisse und Erfahrungen mit gewohnter Offenheit darzulegen pflegte. Es wäre in der Tat schade, wenn die belehrendsten und erbaulichsten von ihnen nicht auch hier ihre Stelle fänden. Sie werden bei jedem Nachdenkenden ein sprechendes Zeugnis dafür ablegen, wie tief der Herr diesen Seinen Knecht, durch welchen Er viele zum Leben und zur Gerechtigkeit gewiesen, selber zuerst auf das Wort vom Kreuz gegründet hat und wie früh derselbe unter der leitenden Zucht des göttlichen Geistes zum geistlichen Mannesalter in Christus heranreifte.
Die Gesinnungen, mit welchen der Verewigte in das Amt, das die Versöhnung predigt, eintrat, drückt am besten ein Brief aus, den er am Ende Januar 1821 von Plieningen aus an seine Freunde schrieb, nachdem er bereits daselbst einige Monate im Segen gewirkt hatte:
„Seitdem ich hier bin", sagt er, "habe ich die gnädige Durchhilfe des Herrn oft erfahren dürfen, so dass ich mit Wahrheit schreiben kann: Ich bin nicht wert aller Barmherzigkeit und Treue, die der Herr an mir getan hat. Ich wurde, nachdem ich von der Krankheit, die mich in Tübingen befiel, wieder etwas hergestellt war, nach Stetten im Remstal als Vikar geschickt. Die Gemeinde in Stetten, der ich das Evangelium viermal predigte, kam fleißig in die Kirche und hatte Segen; es erregte die klare und herzliche Darlegung des Wortes vom Kreuz nicht wenig Aufsehen, so dass selbst ein vorheriger Separatist sich entschloss, wenn der Vikar predige, die Kirche zu besuchen. Von Stetten wurde ich hierher berufen und befinde mich nunmehr zwei Monate hier. Wo soll ich da anfangen, wo enden? Wie kann ich die Treue des Herrn, der mir bisher nach Seiner unbegreiflichen Barmherzigkeit durchgeholfen hat, bei aller Untreue von meiner Seite, genügend preisen?
Das erste Mal predigte ich hier am Andreas-Feiertag. Ich ging mit etwas schwerem Herzen auf die Kanzel und sagte meinen Zuhörern aus Gelegenheit des Evangeliums (Matth. 4,18-21), dass ich gekommen sei, sie zu fischen und wie ich sie fischen wolle. Weil ich mehr Freimütigkeit im Vortrag habe als mein Vorgänger im Vikariat, so erregte meine Predigt nicht geringes Aufsehen. Am Advent war die Kirche voll von Menschen, und seither nimmt die Menschenzahl nicht ab, sondern zu, so dass viele Fremde aus benachbarten Dörfern in die Predigt kommen. Der Hunger nach dem Wort Gottes ist groß; aber wenige sind der Arbeiter. Herr, sende Arbeiter in Deine Ernte!
Die Leute machen viel aus mir, und ich gefalle mir nicht selten darin. Es gibt aber keine größere Sünde für den Prediger als Selbstgefälligkeit. „Ich muss abnehmen, Christus muss zunehmen“ , so soll ein Knecht Christi denken. Was meine Predigten selbst betrifft, so tue ich den Mund so weit auf als möglich, das heißt, ich mache keine Brühe um die Wahrheit herum, was ich auch nicht könnte, sondern sie kommt ganz trocken heraus. Ich habe auch nicht die Regel, durch den Verstand auf das Herz zu wirken, was, wie ich glaube, nur bei erleuchteten Menschen, wo Verstand und Herz im Einklang stehen, möglich ist; sondern ich nehme, sooft ich kann, das Herz in Beschlag. Auf dieses suche ich geradewegs und im Sturmschritt loszugehen und es wie eine Festung zu erobern. Ich glaube in dieser Hinsicht, dass die Gaben weislich verschieden ausgeteilt sind: Der eine ist ein Johannes (Vorläufer und Bußprediger) und muss die Schafe in den Stall hineintreiben; der andere muss die Schafe im Stall füttern, dass sie nicht verhungern oder ausreißen. Wer das Erstere zu seinem Hauptgegenstand macht, der kann auch denjenigen, welche schon im Stall sind, große Dienste erweisen, dass sie nämlich immer tiefer in den Stall hineinlaufen; wer aber nur füttern will, der wird die, welche noch irren, nicht so leicht zu dem ungewohnten Futter heranlocken. Doch die Gaben sind verschieden. Ich bin hier meistenteils ein Treiber Jehu, wozu mir mein Äußeres nicht wenig zustatten kommt.
Ein Prediger, der keinen Beifall findet, ist viel näher am Reich Gottes, hat viel weniger Schwierigkeiten zu überwinden, als wenn die Leute ihm von überall her nachlaufen. Die Schmach ist für den inwendigen Menschen wie eine Arznei, während die Ehre solch ein eitles Herz wie das meinige aufbläht. Soll aber der Heiland gar keine Prediger haben, die Beifall finden? Soll man deswegen wünschen, nicht zu gefallen oder dass einem die Leute aus der Kirche laufen? Das sei ferne! Durch Ehre und Schande muss ein Christ unbeirrt hindurchgehen, bis er zum Ziel kommt und die unvergängliche Krone empfängt. Ja, danken soll man, wenn der Herr, sei es durch mich oder durch dich, etwas Gutes schafft in Seinem Reich. Ich hatte in dieser Hinsicht am Anfang meines Hierseins eine seltsame Geschichte mit meinen Predigten. Ich fühlte, dass ich dieselben nicht lauter in der Einfalt mache, dass viel Eitelkeit, viel unnötiges Sorgen mit unterlaufe. Da wurde es mir einmal im Geist verwehrt, eine Predigt für den zweiten Advent zu schreiben. Ich wollte sie nämlich anfangen zu machen, da überfiel mich auf einmal eine schreckliche Angst; ich konnte, ich durfte diese Predigt nicht machen. Ich fing an zu disputieren, wollte diese Angst durchs Gebet wegtreiben. Allein ich durfte diese Predigt nicht schreiben. Ich hielt mir alle Beweggründe, alle Pflichten gegen meine Gemeinde vor. Es hieß immer: Du darfst nicht! Ich schlief darüber, fing den anderen Tag wieder an, trieb mich den ganzen Vormittag mit diesen Gedanken um, wollte dem Heiland die Sache annehmbar machen, Er möge es mir erlauben. Du darfst nicht!, hieß es immer wieder. Endlich ging ich in meiner Störrigkeit so weit, dass ich Lose zog. War das aus der Einfalt? Es hieß: Du darfst nicht! So ließ ich es denn gehen. Jetzt aber schreibe ich sie wieder. Jedoch nicht bloß wegen der Eitelkeit wurde mir das Schreiben jener Predigt verboten. Es war noch etwas anderes, es war der Sorgengeist, der mich beim Verfassen der Predigten befallen hatte und den mir der Herr austreiben wollte. Gleich bei meinem Eintritt in das Vikariatsleben nämlich dachte ich immer: Wo wirst du aber Stoff genug hernehmen, dass du dich nicht auspredigst? So ein paar Ideen, die du hast, die halten in der Tat nicht aus. Mit diesen und dergleichen Gedanken ging ich aufs Vikariat und hatte große Sorgen. War eine Predigt gehalten, so dachte ich: Jetzt hast du alles gesagt, was du weißt, das nächste Mal weißt du nichts mehr. Darum fing ich schon am Montag an, meine Predigt zu machen und trieb mich beinahe die ganze Woche damit herum, stand mit Sorgen auf, ging mit Sorgen ins Bett und tat mein Amt mit Seufzen, nicht mit Freuden. Da ließ es mir nun mein Herr nicht mehr zu, die Predigt zu schreiben. "Es beruht nicht auf deinem dummen Kopf“, wollte Er mir sagen. „ Ich bin es; halte dich an Mich, einfältiger Mensch! Wenn Ich dir nicht helfe, so geht es dir freilich aus. Gottlob, es ist mir bis jetzt noch nicht ausgegangen! Ich bringe alle Sonntage das Gleiche auf die Kanzel und doch nicht das Gleiche. Es ist dies ein Wunder vor meinen Augen, denn ich habe es nicht getan, könnte es auch nicht tun; der Herr aber, der bisher geholfen hat, wird mir auch fernerhin helfen. Als Regel stelle ich deswegen auf: Wer Christus predigt und zugleich nach Ihm jagt, dem geht es nicht aus; aber die eigene Weisheit ist auszuschöpfen; denn sie ist in einem Gefäß, und ein Gefäß hat einen Boden; die Weisheit Christi aber ist unergründlich. Von Seiner Fülle müssen wir alle nehmen Gnade um Gnade.
Große Erfahrungen mache ich auch am Krankenbett. Ich pflege sechs bis acht meiner Kranken an einem Nachmittag zu besuchen; da kommt man freilich an gar verschiedenen Personen herum. Bei dem einen muss man geben, bei dem andern holen; doch mehr geben als holen. Ich muss dabei manches reden, das nicht gerade aus dem Glauben, sondern auch aus dem Wissen geht. Da kann ich nichts sagen, als dass der Herr möge mein Elend ansehen und was ich schlecht gemacht habe, gut machen. Doch wenn ich oft am ärmsten bin, wenn mir aller helle Blick in die Ewigkeit und auf Gott weggenommen ist, und ich bitte den Herrn, mir in meiner Armut für die Kranken etwas zu schenken, da geht es oft recht gut, oft viel besser, als wenn ich im halben Vertrauen auf eigene Kraft und in halber Zuversicht auf Gnade hingehe. Wenn ich so von einem Haus zum andern wandle, pflege ich den Herrn anzurufen: „Schenke mir wieder etwas!“ Doch haltet mich nicht für fromm, liebe Brüder, welches ich gar nicht bin, sondern ich bin, ich schreibe die Wahrheit, ein gottloses, untreues Geschöpf. Es fehlt mir so sehr am wahrhaftigen Geist des Gebets, und so lange ich diesen nicht habe, kann es auch nicht besser mit mir werden.
Ich bitte Euch, liebe Brüder, dass Ihr den Herrn in dieser Hinsicht für mich anfleht, besonders, dass Er mich treuer machen möge, sei es, durch was es sei! Denn die Gabe des Gebets ist besonders an die treue Bewahrung Seiner Gnade gebunden; Er schreibt auch Bedingungen bei der Gnade vor. Es liegen einem Seelsorger schwere Sorgen auf dem Herzen, nämlich Seelen, die ihm der Herr anvertraut hat, dass er sie weiden soll. Aber was nützt alles eigenmächtige Weiden? Beten für die Gemeinde ist eine Hauptsache. Dann sind wir erst wahre Priester Gottes, wenn wir die Seelen vor Gott mit unserem Gebet vertreten, gleichsam nämlich, denn das eigentlichste Vertreten gehört Christus, dem einzigen und ewigen Hohepriester. Ohne eifriges Gebet für die Gemeinde wird auch keine Liebe im Herzen des Seelsorgers gegen Seine Seelen stattfinden können, und ohne Liebe kann der Mensch nichts Wahrhaftiges wirken.
Mit der christlichen und brüderlichen Fürbitte, liebe Brüder, ich gestehe es euch, bin ich oft übel dran! Es treibt mich beständig zur Fürbitte, und doch ist jedes Mal mein eigenes Elend so groß, dass ich nicht mit getrostem Herzen für andere bete, vielmehr denke: Was treibst du, dass du für andere betest, da dir selbst alles fehlt? Was wird Gott auf dein sündiges Gebet für andere hören? Denn in der Fürbitte erheben wir uns zu einem priesterlichen Stand. Nun aber muss ein Priester innere Würde und Beruf dazu haben, und daran fehlt es bei mir. Auch geschieht mir das Gebet noch sauer, und deswegen besonders auch die Fürbitte, weil ich den Nächsten noch nicht liebe wie mich selbst; da gibt es dann ein elendes, kümmerliches, knechtisches Wesen ab. Doch der Sohn wird mich frei machen, so ich Ihm nicht gar aus der Schule laufe; ich glaube, man muss durch solcherlei Stände hindurchgehen und darf nicht daraus weichen, ja kann nicht, bis der Herr einen frei macht.
Meine Gemeinde ist, wie ich schon geschrieben habe, mit mir zufrieden, und ich glaube, meine bisherige Predigt ist nicht ohne bleibenden Segen gewesen. Doch der Herr allein kennt die Herzen. Wir streuen aus und warten, bis die Frucht gedeiht; aber der Feind ist auch geschäftig, besonders in jetziger Zeit. Ich fühle es deutlich, dass nun eine Zeit des Sammelns ist. Es ist eine Gnadenstimme ausgegangen von dem Lebendigen und spricht: „Kommt zu Mir, ihr Menschenkinder!“ Denn wo ist ein solcher Hunger je gefunden worden nach dem Worte Gottes wie in unserer merkwürdigen und entscheidenden Zeit? Wann war ein solcher Drang, ich sage nicht, von Kindern Gottes, sondern von Weltkindern, Wahrheit zu hören? Wann waren solche Züge des Geistes? Ihr könnt es an euren eigenen Herzen spüren, was der Herr gegenwärtig tut. Merkt auf! Es werden Kräfte ausgegossen von oben. Lasst uns diese Zeit treulich benützen, sowohl zu unserer eigenen, als auch zu anderer Gründung und Festigung im Glauben und in der Hoffnung, dass wir uns stärken auf die Stunde der Versuchung! Ich lese jetzt, wenn ich Zeit habe, Bengels Erklärung der Offenbarung des Johannes. Obiges Urteil über unsere Zeit ist aber nicht aus diesem Bengel'schen System, sondern aus Beobachtung unserer Zeit überhaupt hervorgegangen; aber ich möchte Euch allen raten, dieses Buch samt Stillings Siegesgeschichte zu lesen. Unsere Pflicht, die wir andere unterrichten und selbst selig werden sollen, ist es, zu achten auf das prophetische Wort. Man hat meist eine halbe Angst davor, so in die Zukunft hinein zu forschen. Das ist aber auch nicht nötig; wer redlich forscht, dem wird der Herr geben, was in der Gegenwart vonnöten ist.
Letzte Woche war ich im Examen in Stuttgart, welches man uns sehr erleichterte. Ich hieß in meiner Predigt alle natürlichen Menschen Sünder und Feinde Gottes, bis Christus diese Feindschaft zerstöre. Ich fing gerade an, ein wenig in Eifer zu geraten, da kam der kalte Streich: "Satis est!"[„Es ist genug!“].Was mich aber noch immer am meisten freute, das ist, was Luther sagt: „Das Wort sie sollen lassen stahen, und keinen Dank dazu haben." Wenn einem etwas sauer geschieht, das er pflichthalber tun muss, so dankt man ihm doch noch dafür; wer aber Christus nicht lieb hat, der muss erstens ganz gegen seine Neigung das Wort, das er lieber zerreißen möchte, stehen lassen, zweitens bekommt er nicht einmal einen Dank dazu, besonders wenn er ein Theologe ist. Ein Hauptbedürfnis des menschlichen Herzens, soll etwas aus ihm werden zum Lobe der herrlichen Gnade Gottes, ist Einfalt, bei der Welt genannt: Dummheit und Schwärmerei, aber köstlich vor Gott - nicht, dass man sich dumm anstellt, sondern kindlich und unverrückbar dem lieben Heiland anhange, der uns gebracht hat ins rechte Vaterland. Das möchte ich besonders euch, liebe Tübinger, raten. Ihr armen Leute habt wohl die Köpfe voll gelehrtem Zeugs (oder auch nicht)! Unsere Welt und unsere Theologie ist so voll Unglauben, dass man blutige Tränen weinen möchte. Die Versöhnungslehre besonders werdet ihr nicht ausdenken. Sie ist von den heutigen Theologen, von den orthodoxen, auf ein paar Begriffe ihres eigenen Kopfes, auf Gerechtigkeit, Heiligkeit und Liebe Gottes zurückgeführt worden. Es gibt auch manche Erweckte im Lande, die sich in eigener Kraft bessern wollen. Sie sind im Irrtum. Wir bleiben bei Ihm, der uns alles sein soll, und hüten uns vor selbst erwählter Geistlichkeit. Wir wollen nicht besser sein, als Er uns haben will. Ich danke Gott, dass ich in meinem Inneren etwas mehr zur Ruhe komme; das kommt daher, dass ich mehr auf Gnade mich berufe. Gnade ist es, wenn ich einen Blick vom Heiland erhalte; denn Er ist mir keinen schuldig. Gnade aber ist es auch, wenn ich oft keinen von Ihm bekomme; denn dann ist es mir auch gut. Alles ist Gnade und soll mir immer mehr werden, und ich gehe nicht zuschanden dabei, das weiß ich. Da muss die finstere Gesetzlichkeit weichen. O dass ich schon ganz in die Gnade versenkt wäre! Man gerät dann am wenigsten in Gesetzlichkeiten, Selbstheiligkeiten und Kasteiungen und wird dennoch recht, ja viel mehr noch, in die Zucht genommen.
Dass doch der Sinn des Heilands stets inniger auf uns überginge, besonders beim Predigen, so dass wir die Menschen, die vor uns stehen und die wir belehren und einladen sollen, recht auf dem Herzen trügen und uns nichts dränge als die Sehnsucht, sie als eine Beute in die Arme des Herrn Jesus zu führen! Das heißt dann ein Seelsorger sein. Ich küsse dich und wünsche dir Gnade, Frieden und herzliches Erbarmen von dem Herrn der Herrlichkeit, der gekreuzigt, aber wieder auferstanden ist und nun lebt und regiert in alle Ewigkeiten. Sein Tag scheint nahe zu sein. Betet und wacht! doch alles so, wie Er es darreicht. Nicht wahr? nicht schöner wollen wir sein, als dass wir mit Seinem kostbaren Blut geschmückt vor Ihn treten. Das ist wahrlich schön genug! Amen.“
Ein paar Wochen darauf schrieb er ebenfalls von Plieningen aus seinem selben Freund:
„Ich möchte manchmal zweifeln, ob ich jemals zu einem evangelischen Prediger tauge. Ja, wenn ich allein dem Herrn folgte und Ihn wirken ließe! Aber das ist gerade nicht der Fall. Ich fühle tief, dass es ein anderes ist um einen Lehrer des Evangeliums als um einen Tübinger Studenten der Theologie. Gott stärke uns! Übrigens habe ich auch viel Segen. Das Predigen ist mein Hauptkreuz; die Seelsorge ist mir angenehmer und lieber. Wenn ich einem Kranken zuspreche, so ist es mir selbst weh oder wohl ums Herz; aber predigen ...! Rede ich in der Einfalt? Das ist die Hauptfrage. Nicht um Menschen zu gefallen, sondern um Seelen zu retten? Darum hilf mir beten, mein Bruder, anderer Angriffe der Finsternis nicht zu gedenken.
Ich finde hier viel religiösen Sinn, viel Zug und Neigung zum Christentum; aber vieles ist sehr oberflächlich - gute Regungen, aber sie vergehen oft wieder und werden vergessen. Doch wissen wir ja nicht alles, was der Herr noch anrichten will. Es ist Sammelzeit; der gute Hirte sucht Seine Schafe an allen Orten und Enden. Es sind zwei Privatversammlungen hier, die eine mehr herrnhuterisch, die andere mehr von der Partei Michael Hahns. Ich bin bis jetzt noch in keine gekommen; wenn ich aber hingehe, werde ich beide besuchen. Wir müssen über den verschiedenen Schattierungen des Christentums stehen, und wenn wir im Licht wandeln, so kann dieses auch wohl geschehen; denn das Licht schließt alle Farben in sich; dieses Licht aber ist Jesus Christus - darum zum Lichte!
Ich habe heute über die Versuchungen des Teufels gepredigt. Diese Predigt hätte den Vernunftgeistern nicht gefallen; denn der Name des Teufels ist für unser überfeinertes Zeitalter zu derb und zu stark. Aberglaube und Unglaube muss jetzt der Teufel heißen. Ja freilich, Unglaube heißt er wirklich und auch Aberglaube; denn der Glaube an sich selbst, an das eigene, hohe Selbst oder an die gefallene Vernunft, oder wie man es sonst heißen mag, ist doch nichts anderes als Aberglaube.
So lange es bei einem Menschen nicht zu etwas Völligem in Christus Jesus gekommen ist, bleibt er an Menschen und menschlichen Namen hängen; das kann nicht fehlen. Ach dass wir endlich einmal ganz und allein am Heiland hingen! Es soll zu etwas Ganzem bei uns kommen. Er will unser ganzes Herz. Halbheit und Lauheit ist Ihm zum Ausspeien. Ich achte alles für Kot, auf dass ich Christus gewinne - das sollte unser Sinn sein! In diesem Geiste lass uns Seelsorger werden. Ein bloßer Prediger ohne Seelsorge ist ein Unding. Darum möchte ich dir wünschen, dass du deine eigene Gemeinde zu besorgen hättest. Ich fühle mich ganz glücklich dabei, ob es gleich vieles zu schaffen gibt. Die verschiedenen Berichte, Tauf-, Toten-, Ehebücher, Familienregister, Heiratsgeschichten und andere endlose Tabellen nehmen gar viel Zeit hinweg. Es wäre sehr zu wünschen, dass das leidige Schreibertum endlich einmal aus unserer Kirche hinausgepeitscht würde. Die tote Form ist geblieben; aber freilich, wo kein Geist ist, da kann auch keiner walten. Man sieht die Pfarrer oft nicht mehr als Hirten, sondern als Schreiber, Polizeibeamte und Amtsdiener an. Doch was ereifere ich mich? Ich bin ja selbst noch kein wahrhaftiger Hirte, darf also das Joch wohl tragen, welches mir leider oftmals kein Joch ist, besonders dann nicht, wenn ich nicht rechtschaffen in der Liebe Christi stehe.
Nimm meine elenden Zeilen in Liebe hin. Unser lieber Herr Jesus Christus, der uns liebt, wir mögen Ihn lieben oder nicht, und uns erkauft und erlöst hat, wenn auch unser Glaube klein und schwach ist, und uns zu Königen und Priestern gemacht hat, auch wenn man es uns noch nicht ansieht und wenn wir noch im hellen geistlichen Elend stehen; unser ewig guter Herr und Heiland, der es sich so viel hat kosten lassen, dass Er uns erkaufte und erlöste - der heilige unsere Seelen durch und durch und ziehe uns mit allmächtiger Liebe in Seine Liebe hinein, damit wir nicht zuschanden werden vor Ihm, sondern überwinden durch des Lammes Blut und die Krone des Lebens davontragen!"
Kaum ein paar Wochen nach Abfassung dieser Schreiben gefiel es jedoch Gott, den jugendlichen Arbeiter im Weinberg der Kirche durch einen am 10. Februar 1821 erfolgten abermaligen Krankheitsanfall in eine Lage zu versetzen, die für seinen feurigen Tätigkeitstrieb zwar die schwerste und mühevollste, für seine Läuterung und Förderung aber gewiss die heilsamste war; er sollte, durch jenes hartnäckige Kopfnervenleiden gehemmt, zwei Jahre lang ruhen und schweigen. Wie drückend und aufgabenreich diese eigentümliche Leidensschule für ihn gewesen sein muss, hat er selbst in seinem Lebenslauf angedeutet; ausführlicher sprach er sich darüber in einem Brief an seine Freunde aus, als er nach langer Unterbrechung den abgerissenen Faden brieflicher Mitteilung wieder anknüpfen konnte:
„Der Herr führt hinein und wieder heraus," sagt er in demselben. „Er führte mich vor zwei Jahren in einen Weg hinein, den ich nicht gehen wollte, weil er mir armem Menschen zweckwidrig vorkam; Er führt aber auch wieder heraus, wenn die Prüfung ihr Ziel erreicht hat. So geht es mir jetzt; ich fange je mehr und mehr an, wieder auf meinen Füßen zu gehen, und zwar jetzt nicht bloß auf meinen, sondern ich schließe mich fester an den ewigen Felsen an als vorher. Als ich in Plieningen als Vikar krank wurde, stand ich in einem großen Amtseifer. Ich glaubte damals, ich müsse die Sache ausfechten. Bei diesem Amtseifer war aber sehr viel Fleischliches, wie ich nachher besser erkannte, teils verborgener Hochmut und Selbstvertrauen, teils aber auch unruhiges Blut; denn meine Krankheit steckte von Tübingen her noch in mir. Ich erkannte das Fleischliche des genannten Eifers auch daraus, weil die Liebe zur Plieninger Gemeinde mit dem allmählichen Verschwinden der Hoffnung, wieder an ihr arbeiten zu dürfen, allmählich auch erlosch oder wenigstens schwächer wurde. Ach - traue doch keiner unter uns seinem Herzen, das entsetzlich falsch ist und uns armen Menschen ein Blendwerk um das andere vor die Augen machen kann! Nun aber hatte ich in der Tat eine fatale Lage im Jahr 1821. Auf der einen Seite trieb es mich nach Plieningen, auf der anderen hielt mich meine Krankheit; dazu war ich aus allem literarischen Verkehr herausgesetzt, durfte täglich vielleicht kaum eine halbe Stunde in einem Buch mit großem Druck lesen; sonst war ich auf mich beschränkt. Ausgehen konnte ich auch nicht, wenn die Sonne schien. Das Härteste, was einem begegnen kann, ist Berufslosigkeit, wenn diese längere Zeit anhält. Dazu hatte ich nicht viel inneren Genuss, konnte meistens gar nicht beten und war sehr stumpf im Geist. A. Knapp ist mir in dieser Zeit mit seiner Liebe sehr zustatten gekommen. Der Herr vergelte es ihm! P. schrieb einmal, wie ich mich noch erinnere, ich solle für die anderen beten. Ja, dachte ich, lieber P., wenn Du wüsstest, was ich für ein Priester bin, wie nötig ich miserable, zerschlagene Kreatur die Fürbitte für mich habe! Zu dem allen kamen noch ungläubige, ängstliche Sorgen. Der Arzt, ein sonst geschickter Mann, erklärte endlich, er könne mit mir nicht weiterkommen. Wie wird es gehen?, dachte ich. Was willst du ergreifen, wenn dein Zustand andauernd wird; du hast keinen Freibrief aufs Predigtamt vom Herrn, und was dergleichen im ungläubigen Menschenherzen aufsteigt. Hätte ich recht Glauben gehabt, ich hätte eben im Willen und Erbarmen meines Gottes geruht. Zu Zeiten der Anfechtung, da erfährt man, was man glaubt; da kommt das Herz mit seinen heimlichen Tücken ganz heraus (5 Mose 8,2). Die Anfechtung, sagt die Schrift, lehrt aufs Wort merken. Es ist gut reden vom Glauben, es ist gut schöne Worte machen und auch dabei etwas fühlen; aber wenn es heißt „hic Rhodus, hic salta!" [„Hier ist Rhodos, hier tanze!“] , da geschehen oft bei ziemlich gutem Willen entsetzliche Tölpeleien, dumme Luftsprünge, und ehe man es sich versieht, liegt man da und kann keinen Fuß mehr rühren."
Reicher an demutsvoller Kenntnis seines eigenen Herzens, dessen Trotz und Verzagtheit er jetzt wie niemals zuvor zu erfahren bekam, ging der Verewigte aus dieser schweren Heimsuchung hervor, aber auch reicher an manchen anderen Erfahrungen, die für sein inneres Leben sowohl als für sein ferneres evangelisches Zeugenamt von dem entschiedensten Gewinn waren. Namentlich lernte er jetzt erst das Geheimnis von der freien Gnade Gottes in Christus immer besser verstehen und deswegen auch den seligsten Auftrag eines neutestamentlichen Evangelisten: „Tröstet, tröstet mein Volk!" von nun an auf eine so ergreifende Weise vollziehen. Gott hatte ihn selber getröstet in aller seiner Trübsal; darum konnte er nun auch trösten, die da sind in allerlei Anfechtung und Trübsal mit dem Trost, damit er getröstet ward. Einen Beweis hierfür finden wir in einem Trostschreiben an einen in tiefer Gemütsanfechtung schmachtenden Freund, das wir um seiner evangelischen Gediegenheit willen hier vollständig einzureihen uns nicht versagen können.
„Stuttgart, den 12. September 1822
Lieber B.!
Ich habe deinen Brief mit tiefer Wehmut meines Herzens gelesen, weil ich erkannte, welch eine drückende, zentnerschwere Last auf deiner Seele liegt. Es hat mich eben darum dein Brief auch wieder wackerer gemacht zur Fürbitte für dich, dass unser ewiger Hohepriester Sein gegen gedrückte und zu Boden geschlagene Seelen brennendes Liebesherz mit seinem unaussprechlichen Erbarmen auch gegen dich neigen und, wie Er in der Hitze des Sommers den Regen fallen lässt auf ausgetrocknete Fluren, auch deinen Geist erquicken möge. Ich will dir aber deinen Brief nacheinander beantworten; denn so richtig im Allgemeinen nach meiner Erkenntnis das ist, was du darin sagst, so dünkt mich doch die eine oder die andere Ansicht schief zu sein. Nimm es mir nicht übel, dass ich so schreibe; du gibst dich nach deiner, ich nach meiner Erkenntnis; wenn nur das dabei herauskommt, dass wir einander besser verstehen.
Vor allem, lieber B., möchte ich dich ermahnen: Wirf dein Vertrauen nicht weg, welches eine große Belohnung hat, und lass dir deinen Trost nicht rauben, dass der Herr das Seufzen der Elenden hört, dass Seine Ohren nicht dick geworden sind und dass Er gewöhnlich dann einer Seele am nächsten ist, wenn wir Ihn am fernsten wähnen! Es scheint freilich schwer, ja fast eine Unmöglichkeit zu sein zu glauben, wo man gar nichts sieht als Elend und Finsternis; aber ein wenig Glaube ist auch ein Glaube und gewiss oft wohlgefälliger vor dem Herrn, als wenn einer in beständigem Genuss, wobei auch der Körper seine Rolle mitspielt, sich breit und groß machen kann. „Das zerstoßene Rohr wird er nicht zerbrechen", das ist der Grundcharakter des Heilands. Und o! Mit welcher Treue übt der gute Erzhirte dieses Sein Amt aus! Was darf man bei Ihm erfahren! Was hast du selbst erfahren, wenn du der vorigen Tage gedenkst! Siehe! Wenn einer nicht mehr beten kann, wenn seine Seele gleich einer Wüste geworden ist, voll Dornen, Disteln und Unglauben, oder nicht einmal von etwas so Aktivem, sondern eine Wüste voll Unseligkeit, ein Hades, eine Hölle sogar, und es steigt einem solchen Menschen mitten in seiner Unseligkeit täglich vielleicht nur ein Mal der Seufzer auf: „Herr, erbarme Dich!“ oder: „Herr, wie so lange!“ - was meinst du, lieber B.? Meinst du, dieser Seufzer sei nicht so viel wert als stundenlanges Gebet? Warum ist wohl dieser Seufzer dem Herrn so wohlgefällig? Antwort: Weil es Röm. 8,26 also steht. Nun tue mir noch den Gefallen und lies mir auch Vers 25 und stärke dich damit! Ich will dir noch einen alten Vers beifügen aus unserem alten württembergischen Gesangbuch, der hier hergehört:
Jesu , hilf siegen, wann alles verschwindet,
Wenn ich mein Nichts und Verderben nur seh,
Wenn kein Vermögen zum Beten sich findet,
Wenn ich muss sein wie ein verschüchtertes Reh!
Ach Herr, so wollst du im Grunde der Seelen
Dich mit dem innersten Seufzen vermählen!
Was du schreibst: Der Heiland könne uns nicht beseligen, solange wir noch in irgendeinem Stücke unsere eigene Gerechtigkeit aufrichten, das glaube ich auch und stimme hierin völlig mit dir überein. Er will Leute haben, die nicht durch Rennen und Laufen, sondern nur durch Sein Erbarmen selig werden wollen. Aber das meine ich doch, du befindest dich hierin in einer gewissen Selbsttäuschung, in welcher ich auch lange gesteckt bin. Du forderst etwas Evangelisches durch das Gesetz, was nur durch das Evangelium bewirkt werden kann. Glaube mir, Lieber: Eine wahre Herzenszerknirschung, ein wahres Armsünder-Sein kann nur durch das Evangelium uns gegeben werden ; nur durch Anerkennung der Liebe, die uns zuerst geliebt hat, kann Satans Werk in uns zerschlagen und ausgefegt werden. Das Gesetz kann auch zerschlagen; aber es ist, wie wenn du ein Stück Gummi elasticum mit dem Hammer zerschlagen wolltest: Solange der Hammer darauf liegt, bleibt es breit, tut man aber den Hammer weg, so geht es wieder zusammen. Da muss man mit Feuer, und zwar mit Liebesfeuer kommen und die Materie zergehen und zerfließen lassen; das hilft, und das hilft allein.
Ich habe einmal in den Büding'schen Sammlungen gelesen, dass Zinzendorf gefragt wurde, was zu wahrer Buße gehöre oder wann eine Menschenseele so sei, dass sie den Heiland ergreifen könne. Die Antwort war: „Wenn sie angefangen hat, an sich selbst zu verzagen." Glaubst du das nicht? Ja, du glaubst es gewiss. Nun sehe ich aber schon, wie dir mit Blick auf dich selbst folgendes „Aber" aufsteigt: „Aber ich verzage ja nicht an mir selbst, ich bin ja kein ausgezogener Sünder; ich sehe wohl, dass all meine Sache nichts ist; aber mein Herz will es nicht recht glauben, und wenn es auch öfters mit Gewalt darauf hingezogen wird, so fällt es bald wieder in seinen vorigen Hochmut zurück!“ Wie lange habe ich mich mit solchen Gedanken geplagt, bis mir aufgedeckt wurde, dass ich ja eben in dem Arm- und Ausgezogensein meine eigene Gerechtigkeit suche . O! Was ist das für eine Tücke vom Satan, womit er die Seelen von ihrem Erbarmer zurückhält, eine umso feinere Schliche, weil er sich hier in das Gewand der Demut hüllt! Mein Lieber, aus deinem ganzen Brief geht hervor, dass du an deinem eigenen Können verzagst. Du stehst ganz in göttlicher Ordnung der Buße; lass dein Herz noch so hochmütig und selbstgerecht sein: Du machst es wahrlich nicht anders, und wenn du auch Jahrtausende hindurch dasselbe zum Armsein zwingen willst. Lass das alles stehen! Der Heiland hat schon Seine Mittel dazu. Denn es ist doch wahrlich ein Unterschied zwischen dem, wenn man die guten Hoffnungen von sich aufgibt, und zwischen dem, wenn man ein ganz ausgezogener Sünder ist. Hat nur ein Mensch die Erkenntnis von seinem Elend und von der Unentbehrlichkeit seines Heilandes, und die hast du ja; das Herz mag dann sagen, was es will; siehe, ein solcher Mensch ist fähig zum Reich Gottes! Christus ist uns zuerst gemacht zur Weisheit und Gerechtigkeit, und dann zur Heiligung. Ist denn aber die Heiligung in der Weisheit? denn die Beugung des Herzens gehört ja zur Heiligung. Nein. Oder bist du nicht mühselig und beladen? Drückt dich denn nicht der Hochmut und die Selbstgerechtigkeit deines eigenen Herzens? Ist das nicht eine große Last? Wie seltsam wäre das, wenn einer sagen wollte: Ich kann mir die Last noch nicht abnehmen lassen, sie drückt mich noch nicht genug. Mit einem Wort: Ich sage dir vor dem Herrn nach meiner innersten Glaubensüberzeugung, die ich vor dem Angesicht Gottes gefasst habe: Du stehst in göttlicher Ordnung der Buße und hast durch deinen Erlöser ein Recht auf alle Vorrechte der Kinder Gottes. Prüfe dich, lieber Herzensbruder! Und du wirst finden, dass ich Recht habe; denn ich habe es aus eigener Erfahrung geschöpft.
Wenn du aber diese Überzeugung hast, was willst du denn weiter? Soll dich dein eigenes Herz und Satanas noch länger herumzerren? Das sei doch ferne! Eine jede Minute ist hier zu viel. Du verlangst eine Versicherung deines Gnadenstandes, welche dir nur das Erbarmen des Heilandes geben kann; aber sage mir: Bist du zunächst darauf angewiesen? Mitnichten, sondern: So du glauben würdest, würdest du die HerrlichkeitGottessehen! Das ist göttliche Ordnung, dass man zuerst glaubt, dann erfährt. Oder wo tat denn der Heiland Wunder? Nicht wahr, da, wo Glaube an Ihn war? In Nazareth konnte er keines tun um ihres Unglaubens willen. Nun sagst du: Ich glaube, dass der Heiland mir helfen kann; aber Er hat mir bis jetzt noch nicht geholfen. Antwort: Nein! du glaubst nicht, dass Er dir helfen kann, wenn du nicht vorher geglaubt hast, dass Er dir schon geholfen, d. h. sein Blut auch für dich zum Lösegeld gegeben hat. Das scheint dir vielleicht dunkel; darum will ich dir meine Gedanken hierüber auseinandersetzen.
Der Heiland ist für die Sünder gestorben. Das bist du und ich. Dass wir beide in diesen Gnadenrat mit eingeschlossen sind, bekräftigt Sein Wort, das nicht lügen kann und das diejenigen, welche sich ernstlich nach Ihm sehnen - oder welche es mit Schmerz erkennen, dass sie Sünder sind, die sich nach einem Heiland umsehen müssen - als solche preist, die Ansprüche an Ihn und an Sein Lösegeld zu machen haben. Was hindert nun einen Sünder zu glauben, dass der Heiland auch für ihn gestorben ist? Es dünkt mich, niemand als er selber. Aber, könnte man sagen: Wo hat er denn das Angeld dafür, dass es auch auf ihn abgesehen war? Antwort: Das Angeld liegt eben darin, dass er ein Sünder ist , weil Christus für alle Sünder gestorben ist. Aber was hat er denn vor den Gottlosen voraus, die doch verloren gehen? Antwort: Das hat er voraus, dass seine Seele ein wahres, herzliches Verlangen nach dem Heiland hat, was bei den Gottlosen nicht ist. Denn in dem Augenblick, wo sie sich, mit Hintansetzung allen eigenen Könnens und Wollens, nach dem Heiland umsieht, kann sie auch, wenn sie will, glauben, dass der Heiland ihre Sünde gebüßt hat. Es braucht unseres Wirkens nimmermehr, wenn es sich um unsere Rechtfertigung vor Gott handelt. Der Ratschluss der Erbarmung Gottes über alle armen, verlorenen Sünder ist von Ewigkeit gefasst und in der Zeit ausgeführt und versiegelt . Wer will nun Sünder, die sich dem Heiland ergeben, beschuldigen? Selbst der mächtigste Kläger, der Teufel, muss weichen, weil hier ein Blut ist, das besser redet als Abels Blut.
Ich lese gegenwärtig ein altes evangelisches Buch über die Rechtfertigung. Der Verfasser (Burk) tut darin deutlich dar, dass man zwischen der Rechtfertigung und Versiegelung eines Sünders einen Unterschied machen müsse. Die Rechtfertigung muss der Ordnung und der Zeit nach vorausgehen und geschieht in dem Herzen Gottes, welchem der ewige Hohepriester, Christus, eine jede Seele, die an sich selbst verzagt und Ihm sich völlig ergeben will, als Seine Todesbeute anzeigt. Die Versiegelung kommt hintennach; sie soll freilich nicht allzu lange ausbleiben, wird aber oft durch die Ungeschicklichkeit redlicher Gemüter sehr aufgehalten. Betrachte das Beispiel der Sünderin Luk. 7 und vergleiche Vers 47, 48, 50. Vom Zöllner heißt es eben Luk. 18,9 - 14: „Er ging gerechtfertigt hinab in sein Haus." Ob er sogleich die Versicherung hievon erlangt habe, steht nicht dabei. Diese Schrift hat mir viel Licht gegeben. Ich weiß nicht, ob du mich ganz verstanden hast. Mein eigenes Beispiel wird dir meinen Sinn noch besser verdeutlichen.
Als ich durch Gottes Gnade aus meinem langen Sündenschlaf aufgeweckt wurde, da hatte ich keinen Führer und war auch hochmütig genug, mich nach keinem umzusehen. Nur den Jakob Böhme bekam ich in die Hand. Du kannst dir denken, was ich mir da für ein Christentum konstruierte. Zwar seine theoretischen Meinungen verderbten nicht viel; wohl aber seine praktischen, nämlich seine Heiligungslehre ohne Rechtfertigung, oder seine Rechtfertigungslehre, die ganz den Charakter einer bloßen Heiligungslehre trägt. Über ein Jahr lang war mir daher die biblisch kirchliche Lehre von der Versöhnung eine wahre Torheit . Nach und nach ging mir jedoch mehr Licht im Inneren auf; allein ob ich gleich viel über das Kreuz Christi sprach, las, betete, so wusste ich doch nicht, dass man die Gnade so umsonst annehmen dürfe. Ich stand während meiner ganzen Tübinger Laufbahn in einem schrecklichen Eigenwirken, mit der Theorie in einer Begnadigungslehre, die umsonst angenommen werden, wo man nur zum Heiland kommen dürfe, mit der Praxisfür mich selbst ferne, ferne vom Frieden in den Wunden des Herrn. Von diesem Eigenwirken, namentlich im Essen und Trinken, erlöste mich Gott durch meine Krankheit in Tübingen. Oft hatte ich mich gerade im Punkte der täglichen Nahrung nach mehr Freiheit gesehnt; aber ich konnte nicht loskommen von der Ängstlichkeit. Mit meinem Krankheitsanfall in Tübingen war es wie weggeflogen, und jetzt würde ich dergleichen Dingen kein Gehör mehr geben. Nun kam ich auf das Vikariat, predigte Christus den Gekreuzigten mit viel innerer Angst und Widerspruch; aber ich setzte mich darüber hinweg. In diesem Zustand kam ich hierher und hatte nun Zeit, über mich nachzudenken. Was ich in dieser Zeit oft durchgemacht habe, das kannst du dir einbilden. Ich kam nach und nach von den hochfliegenden Gedanken mehr ab und beschloss, mich in die Fügung meines Gottes zu schicken. Es war gut, dass ich dabei wie in einem beständigen Traum dahinging und den anderen Tag gewöhnlich nicht mehr viel vom vorigen wusste; sonst wäre ich zu melancholisch geworden. Aber das Bedürfnis, der Hunger nach wahrer Gewissheit und Festigkeit des Herzens - mit anderen Worten, nach Jesus - wurde immer stärker. Dabei konnte ich, oder vielmehr wollte ich, gar nicht glauben, dass auch für mich eine Erlösung vorhanden sei. Ich dachte immer: Wenn es mir der Heiland einmal speziell versicherte, so wollte ich es glauben. Indessen fing ich doch an, weil ich vom Gesetz und den toten Werken entsetzlich geplagt wurde, mich oft in die durchgrabenen Hände des Herrn zu empfehlen, indem ich ja keine andere Zuflucht hatte, und ich wurde dabei oft ganz ruhig, sogar vergnügt. Doch konnte oder wollte ich immer noch nicht glauben, bis ein guter Freund mir versicherte: Man dürfe zugreifen, das Evangelium sei deswegen da. Ich erhob mich nun aus meiner Passivität, trug die Sache dem Heiland vor und sagte Ihm, ich wolle Ihm auf sein Wort und Evangelium hin glauben . Auf diesem Glauben bin ich bis jetzt geblieben und habe zwar noch keine besondere Heimsuchung des Herrn erfahren, aber doch habe ich Ruhe; und wenn mein Fleisch oder Satan mir meine Sache streitig machen will, so sehe ich nur auf mein Neues Testament und auf Golgatha hin als auf die ewige Versiegelung meines Gnadenstandes; dann kann ich wieder glauben. Denn am Glauben liegt es ; vorher gibt es keine Ruhe; und kann man nicht mit Gefühl glauben, so muss man es ohne Gefühl tun. Man ehrt Gott mehr mit bloßem Glauben auf Sein heiliges Wort hin, als wenn man vorher alles fühlen will. Wenn du einem anderen etwas versprichst, und er glaubt dir, dass du es ihm halten werdest, wenn du auch noch keine Anstalten dazu machst, nicht wahr, das gefällt dir? Wie viel mehr findet dieses statt bei dem wahrhaftigen Gott!
Herr, mein Hirt, Brunn aller Freuden,
Du bist mein, weil ich Dich fasse
Und Dich nicht, o mein Licht,
Aus dem Herzen lasse.
Das ist es, mein Bruder; steh! Der Geist Gottes kann uns nicht beikommen, wenn wir so unruhig sind. Ruhe ist aber bloß in geduldiger Ergebung in den Willen des Herrn, d. h. im Glauben.
Aber noch eins! Ich bin überzeugt, dass du auch körperlich etwas gebrauchen solltest, denn du leidest am Körper, wie ich daran gelitten habe. Der beste Musikus kann auf einem verstimmten Instrument nicht gut spielen. So wird unsere Seele durch den Körper verschroben und verstimmt und die krankhaften Gefühle des letzteren mischen sich in die Vorstellungen der Seele. Darum lass dir von einem Arzt etwas geben; denn gebrauchen musst du etwas.
Lass dich es nicht verdrießen, dass du einen so langen Brief von mir lesen musst. Die Liebe hat ihn mir diktiert. Wenn du nur daraus siehst, dass ich es gut mit dir meine, dass ich dich liebe! Wenn es aber ein so sündiger und schwacher Mensch gut mit dir meint, dann mache du den Schluss auf das Herz des Heilandes, das lauter Liebe und Erbarmung ist! Grüße die Brüder, die mich kennen, besonders den (…). Versichere sie meiner Liebe!
Der Friede, der nicht mehr weicht, nämlich der Friede Gottes im Glauben an Seinen Sohn, sei mit deinem Geiste, den der Heiland mit Seinem Blut erlöst hat, du magst es nun glauben oder nicht, du magst dich gegen diesen Glauben sperren, solange du willst. Ohne Fühlen will ich trauen - endlich kommt der Tag des Heils!
Dein Bruder
L. Hofacker.
Die nämliche evangelische Grundgesinnung, die uns in diesem Schreiben so wohltuend anspricht, leuchtet auch noch aus einem anderen kürzeren Brief hervor, den der Selige in denselben Tagen an einen anderen Vertrauten seines Herzens schrieb. Er sagt darin: „Ich befehle mich gegenwärtig täglich und stündlich in die durchgrabenen Hände Jesu, und dabei befinde ich mich wohl. Ich glaube, dass mich Christus ohne all mein Verdienst durch Sein Leiden und Sterben erkauft hat, ohne Rücksicht darauf, wie weit ich es im geistlich arm-Sein oder in der Heiligung gebracht habe, sondern aus lauterem, purem Erbarmen. Das halte ich mir vor und reiße es an mich; denn Sein Wort ist ja gewiss, und dabei habe ich schon manche selige Stunde gehabt, ob ich gleich noch nicht versiegelt bin durch den Heiligen Geist Gottes. Aber das gehört dazu, dass ich mich gänzlich von eigener Gebetsgerechtigkeit, eigenem Armsünder-Sein und guten Regungen (insofern sie verdienstlich sein sollen) ausziehe und gänzlich und bloß auf das lautere Erbarmen Gottes, das sich in Christus auf Golgatha geoffenbart hat, vertraue. Das gibt Ruhe, und was das Beste dabei ist, man sieht einem stets größeren Frieden dabei entgegen. Denn so will es der Heiland haben, dass wir Ihm die Ehre geben, unser misstrauisch-feindseliges Herz gegen Ihn fahren lassen und allein auf Seine Erbarmung sehen. O was kann einem da der Heiland werden!
O Seelenfreund! Wie wohl ist dem Gemüte,
Das sich im eigenen Weg ermüdet hat!
Wenn es zu Dir, dem Seelenleben, naht
Und schmeckt in Dir die wundersüße Güte,
Die alle Angst und alles Weh verschlingt,
Und uns in Dir zum ew'gen Frieden bringt.
Doch, mein Freund, so weit ist es noch nicht bei mir. Wenn aber das Morgenrot anbricht, erwartet man doch den Tag. Nicht wahr? Ach, lass uns doch von uns selber absehen! Satan zieht uns dabei nur an seinem Strick herum. Darum rein ab von uns! Denn wir sind Sein, weil Er uns als seine armen Kreaturen erkauft hat; wir haben ein Recht an Ihm, weil wir Sünder sind. Solange man durchs Gebet noch etwas aus sich selbst herausschlagen will (und ist es nicht oft so?), so steht es nicht richtig. Sondern still zu des Heilands Füßen gelegen, sich in Seine Wunden hinein empfohlen, Seine ewige Erbarmung angesehen und Ihn gefragt: Bin ich denn nicht Dein? Bist Du für mich allein nicht gestorben? Und wenn man Frieden darauf bekommt, sich diesen nicht mehr rauben lassen: Das ist dem Heiland angenehm. Das aber ist Satans größte Freude, wenn er uns vom Glauben, vom puren, nackten, bloßen Glauben an Jesu Verdienst abziehen kann, weil dieser sein Tod ist!"
Ein großes, weites Arbeitsfeld eröffnete sich dem Seligen, als nach zweijähriger geduldiger Wartezeit sich mit Gottes Hilfe seine Gesundheit, freilich langsam, wieder zu befestigen begann. Er konnte zu Ende des Jahres 1822 mit kleinen kirchlichen Verrichtungen den Versuch machen, bis er zu Anfang des darauf folgenden Jahres wagen durfte, als Hilfsprediger seines kränklichen Vaters die Kanzel wieder zu betreten.
Die Salbung, mit der er von Christus zeugte, sowie seine ungekünstelte Einfalt und Herzlichkeit, die seinen Vorträgen eine besonders eindringliche Kraft verliehen, lockte in der volkreichen Hauptstadt allsonntäglich eine ungewöhnliche Menge Menschen in seine Predigten, so dass selbst vor den offenen Türen der geräumigen Kirche sich häufig Scharen von aufmerksamen Zuhörern drängten. Namentlich strömten auch aus der näheren und entfernteren Umgegend Stuttgarts ganze Massen von Landvolk herzu, die es sich nicht verdrießen ließen, einen Weg von mehreren Stunden hin und her zu Fuß zurückzulegen, um, meist stehend in der gedrängt vollen Kirche, ein Wort der Erbauung aus seinem Mund aufzufassen. Über die offene Tür, die der Herr ihm schenkte, äußerte er sich in einem Brief an seine Freunde im September 1823 folgendermaßen: „Wenn ich mich selbst betrachte, so muss ich mich verwundern, dass mich der Herr auf diesen Posten gestellt hat; denn es ist ein sehr wichtiger Posten, und wer bin ich? Ach, Er möge doch alles, alles, woran es bei mir in der innerlichen und äußerlichen Tätigkeit fehlt, mit Seiner Gnade bedecken! Was ich vermutete, das ist nun eingetroffen. Die einfältige Darlegung des Weges zum Leben (ich tue es wenigstens so einfältig, als ich kann) zieht eine große Menge von Zuhörern herbei; denn eine Predigtweise dieser Art ist etwas ungewohnt, so viel wir auch des Guten in Württemberg haben. Es kommen jeglichen Sonntag so viele Zuhörer in die Kirche, als diese wenigstens fasst - ich hoffe, nicht ohne Segen, welchen ich teilweise schon selbst in Früchten gesehen habe. Ich predige Buße und Glauben an den Heiland und was sonst in diese Materien einschlägt, und suche die Leute, wenn ich ihnen ihr Sündenelend und ihre natürliche Rettungslosigkeit klar vorgehalten, auch in Liebe anzufassen und zur Ergreifung des freien, im Evangelium bereitliegenden Heils zu ermutigen. Man kann aber mit dem Gesetz nur dann gründlich erschüttern und beugen, wenn man es geistlich, als einen Zuchtmeister auf Christus benützt; oder aber auch mit dem Evangelium durch Vorstellung des Verdienstes und der Liebe unseres Herrn und durch Vergleichung unseres natürlichen Herzens mit Ihm. Ich glaube, beide Arten dürfen einem Prediger, der an der allgemeinen Kirche arbeitet, nicht fremd sein, sondern das sind seine Materien, die sich bei ihm in den unzähligsten Gestaltungen wiederholen müssen. Die evangelische Art ist freilich die einschneidendere und wirksamere und macht gründlichere Bekehrungen; aber die andere ist auch biblisch und muss von einem biblischen Prediger getrieben werden. Überhaupt suche ich in allem, was ich treibe und zu treiben und zu lesen gewürdigt werde, stets biblischer zu werden, damit ich als erbaut auf den Grund der Apostel und Propheten, da Jesus Christus der Eckstein ist, nicht Holz, Heu und Stoppeln, sondern Bleibendes, auch im Feuer die Probe Haltendes erbauen möge.
Es ist mir bei meiner hiesigen Tätigkeit immer, als ob es hieße: „Rufe laut und schone nicht!" Weil ich hier, als Vikar namentlich, nur eine Pilgerhütte aufgeschlagen habe, so trachte ich darnach, in jeglicher Predigt alles, den ganzen Weg des Lebens, zu sagen und mit aller Macht, die mir der Herr schenkt, zu der gekreuzigten Liebe einzuladen. Ich könnte wohl auch oft speziellere Materien abhandeln; wenn ich es aber tun möchte, so schweben mir so viele arme Seelen vor, die oft genug Stroh statt Futter kriegen, und es tritt mir der Befehl des Herrn, Buße und Vergebung der Sünden in Seinem Namen zu verkündigen, vor das Herz. Dazu kommt auch mein eigenes Unvermögen, solche speziellen Sachen abzuhandeln. Ich habe keine Gedanken über das, was sich nicht auf den Heiland oder nicht auf das innere Leben, insofern Er sich darin gestaltet, und auf Seine unaussprechliche Liebe bezieht. Über jenes kann ich nicht reden, es fällt mir nichts ein, und so bin ich durch die Umstände, durch die Notwendigkeit meiner Natur, auf das liebliche, Mark und Bein durchdringende Evangelium von dem Frieden Gottes, durch den Sohn erworben, und von der Freundlichkeit und Leutseligkeit Gottes hingewiesen. Ich wünsche, dass es euch auch also gehe, geliebte Brüder, so werden wir nach und nach zu dem Sinne der Apostel (Apostelgeschichte 4,20: „Wir können es ja nicht lassen ") gelangen und zu Dr. Luthers Sinn: „Hier stehe ich, ich kann nicht anders!"
„Ich werde" - so schreibt er in einem etwas späteren Brief - „je länger ich predige, desto einfacher und finde, dass nicht der Schmuck der Worte, sondern, selbst bei dem kunstlosesten, vielleicht sogar holperigen Vortrag, eine gewisse Herzlichkeit, wobei man es dem Prediger abfühlt, er suche das Heil der Seelen, fast alles ausmacht. Indessen ist es mein Anliegen vor dem Herrn: Er möge mich redlich machen vor Seinem Angesicht, dass doch die einfältige, grundlautere Art Jesu Christi an mir zum Vorschein komme.“
In diesen letzten Worten hat der Selige kurz und bündig das Geheimnis angedeutet, warum seine Vorträge eine so eigentümliche Anziehungskraft auf die Geister ausübten. Dem Inhalt nach wollten sie weder etwas tief Durchdachtes noch der rednerischen Darstellung nach etwas Schönes und Abgerundetes geben; die schulmäßigen Regeln der sogenannten Kanzelberedsamkeit wurden von ihm ohnehin nicht eingehalten. Aber jener echte Priestersinn, dem man es abfühlt, dass ihn die Liebe Christi drängt, teuer erkaufte Seelen dem rettenden Sünderfreund zuzuführen, und jene Entschiedenheit der Einfalt, der nichts groß erscheint als Jesus allein, bereiten selbst dem schlichtesten Wort einen Eingang, den man mit allen Hebeln auch der glänzendsten Redekunst vergeblich zu erzielen sucht. „Die göttliche Torheit ist weiser, denn die Menschen sind" - das war der Grundsatz, von dem der Selige ausging. Darum konnte er auch auf der Kanzel und unter ihr eine so getroste Stellung einnehmen allen Lehrgebäuden einer bloß menschlichen Weisheit gegenüber, zumal wenn diese sich noch überdies erheben will gegen das Wort und Kreuz Christi. „Liebe Brüder," ruft er einmal seinen Freunden und Mitarbeitern am Evangelium in einem Schreiben aus dieser Zeit zu, “wir müssen so keck werden, allen Menschenwitz und alles, was von Menschen kommt, mit Füßen zu treten, sobald es die Worte Christi betrifft. Ich achte es alles für Kot, sagt Paulus. Was kümmert es mich, was dieser oder jener begabte Sünder über dies oder jenes denkt, heiße er nun Schleiermacher oder Storr oder Kant oder Swedenborg oder wie er will. Wenn ich aus dem einfältigen Zeugnis der Heiligen Schrift dem Wortsinn nach weiß, was der Heiland darüber gedacht hat, so ist es genug. Doch hiervon muss ich schweigen; denn die Galle steigt mir jedes Mal, wenn ich auf diesen Punkt komme; ich möchte schreien, dass man es vom Südpol bis zum Nordpol hörte: Dass die Menschen doch Gott fürchten und Ihm die Ehre geben sollen; aber sie sind blind, benebelt vom Zeitgeist, vom Gott dieser Welt. O Brüder! Betet, eilt zum Lamm Gottes hin! Werdet um Gottes willen Kinder, wie der Heiland befohlen hat, glaubt an Sein Wort, verachtet die Welt samt ihrer Weisheit und disputiert nicht! Meint ihr, wenn der große Schmelzer die Kinder Levi einmal in Seinen Tiegel nimmt (Maleachi 3,2.3), sie werden auch noch disputieren und Meinungskram auspacken? Man hat eben in unserer Zeit ungeheuer Langeweile und gut Leben. Seht euch vor, man wird euch eure Fleischesruhe versalzen; der Herr wird allem müßigen Geschwätz ein Ende machen, dessen bin ich gewiss."
„Ich mache die Erfahrung," setzt er in einem anderen Schreiben hinzu, „dass gerade dies der faule Fleck unserer Zeit ist: Man kennt sich selbst nicht mehr noch seine vollkommene Abhängigkeit von Gott und hat keinen Schrecken vor Ihm und Seiner Gerechtigkeit; man fürchtet Ihn nicht mehr, sondern die Herren Philosophen haben uns mit ihren elenden Firlefanzereien die Augen verklebt, so dass die Majestätsrechte des lebendigen Gottes von diesem elenden Geschlecht nicht mehr anerkannt werden. Man weiß es nicht mehr und leugnet es, und es fällt gar nicht mehr in den Bereich der Gedanken der jetzigen Welt, dass der Herr, unser Gott, ein verzehrendes Feuer ist, ein Gott, welcher Leib und Seele verderben kann und, so wir nicht zu der geoffenbarten Liebe fliehen, verderben wird in der Hölle, wo Heulen ist und Zähneknirschen. Sind dies doch die Worte der ewigen Wahrheit selber! Aber unser empörtes und doch so entnervtes Geschlecht lässt das, was die ewige Liebe und Wahrheit mit so großem göttlichem Ernst gesprochen hat, nicht mehr gelten, sondern Christus wird in den Sumpf der Gleichgültigkeit und Lauheit dieser Zeit herabgezogen, und sie sprechen dann: „Hoja, nun haben wir unseren Gott!" Diese Sprache wird aufhören, wenn Er kommt in den Wolken des Himmels und aller Augen Ihn sehen und die Ihn durchstochen haben, wenn heulen werden alle Geschlechter der Erde (Offenb. 1,7). O, es hat mich schon so innig gerührt, was ich von Dr. Martin Luther las: Welch einen Schrecken er gehabt habe vor dem Jüngsten Gericht und hätte doch mögen selig werden. Ist es denn jetzt anders geworden? Ist denn Gott von Seinen ewigen Majestätsrechten gewichen? Sind denn Seine Gerichte zu Kinderspielen geworden, wozu der leichtsinnige, freche Geist dieser Zeitmenschen sie gerne machen möchte? O Brüder! der Herr verlangt ein rechtschaffenes Herz gegen Ihn von uns; sonst wird Er, wenn Er Seine Tenne fegt, uns ja auch als Spreu verwerfen und mit ewigem Feuer verbrennen. Ach, lasst uns doch um Augensalbe bitten!"
Dass der ungemeine Beifall, den der Selige als ein noch so junger Prediger in der Hauptstadt des Landes einerntete, ihn der Gefahr aussetzen musste, von der demütigen Einfalt auf Christus weggerückt zu werden, bedarf wohl keiner besonderen Andeutung. Gott aber hatte bereits nach Seiner Weisheit durch eine fortdauernde Kränklichkeit sowie durch manche häusliche Leiden für ein gehöriges Gegengewicht gesorgt; und auch an der treuen Gnadenzucht des Heiligen Geistes fehlte es nicht. Wie genau es der Verewigte in solchen Dingen mit sich zu nehmen, wie streng er über sich zu wachen pflegte, geht aus einigen Äußerungen hervor, die ebenfalls in dem obigen Brief enthalten sind. Er sagt:
„Während es bei mir innerlich so elend aussieht, hält man mich in Stuttgart für einen der frömmsten und begnadetsten Jünger Christi. Ich habe selbst einigen Anlass zu dieser Meinung gegeben. Durch gewisse Wendungen im Vortrag kann man sich den Schein geben, als ob man wirklich in etwas lebe, worin man noch nicht wahrhaftig lebt. Ob ich es nun gleich meines Wissens noch nie auf eine solche Heuchelei angelegt habe, so hat mich doch der Gedanke, dass dies und jenes gesagt sein müsse, das Bewusstsein, dass ich dasjenige, was ich sagen musste, auch schon, wiewohl nicht gerade jetzt, da ich es sage, an mir selbst einigermaßen erfahren habe, der Anblick und der Zug so vieler suchender Geister bisweilen hingerissen, dass ich lebhafter von etwas redete, als ich es eben innerlich hatte, obwohl ich es lebendig fühlte. Obgleich nun, wenn diese Lebhaftigkeit im Vortrag bei Abhandlung dieser oder jener Herzensmaterie ganz vom Geist des Herrn herkäme, dies mir gar nicht zur Last wäre, so wisst Ihr doch, dass wir aus Geist und Fleisch bestehen, und darum ist es mir schon bedenklich gewesen, ob ich nicht durch Selbstwirken und Selbstwollen einigen Anlass zu der großen Meinung gegeben habe, die manche von meinem Christensinn haben; denn das gewöhnliche Volk macht aus demjenigen, den es gerne hört, nur gar zu leicht einen Papst. In dieser Beziehung stehe ich hier auf einem gefährlichen Posten. Zwar beugt es mich neuerdings, wenn mich die Leute so ansehen, wie sie es tun; doch fühle ich innerlich noch eine geheime Zustimmung meines Herzens – ein solch betrügerisches Ding ist es um mein Gemüt." Später setzte er hinzu: „Ich sehne mich und wünsche von Herzen, dass alle Päpste zugrunde gehen und Christus allein verherrlicht werde. Was meinen Herzenszustand betrifft, so darf ich sagen, dass mich der Heiland nach Seiner großen Barmherzigkeit etwas ernstlicher macht und mich nach Seiner Treue unter den äußeren Erhebungen innerlich demütigt, wofür Ihm ewiglich Dank gesagt sei. Auch geht je mehr und mehr der große Tag des Neuen Bundes in meiner Seele auf. Er wolle Sein Werk in mir fortsetzen! Das ist mir auch groß, dass Er mich bis heute in keine äußeren Torheiten hat hineinfallen lassen, was Seinem hiesigen Werk am Evangelium nur schädlich gewesen wäre. O, Er bewahrt meinen Fuß, dessen ich nicht wert bin!"
Was der Selige unter dem „größeren Ernst" verstand, den er bei sich verspürte, das hat er in einem Schreiben vom 7. November 1824 näher bezeichnet: „Es ist doch etwas Großes," sagt er, „dass wir in der Versöhnung Jesu alles, auch die geringste Sünde, wiederfinden, nur von einer ganz anderen Seite, nämlich von der Ansicht und nach der Strafgerechtigkeit Gottes, wie die Sünde an Christus von dem Zorn Gottes getroffen und getötet wurde. Ich finde nirgends meine Ruhe als in dem geschlachteten Lamm Gottes, wofür dem Herrn Preis und Ehre sei. Oft spüre ich einen rechten Trieb und ein Feuer in mir, dem Heiland für seine Todesmühe alles hinzugeben; es sind aber noch erst Augenblicke und noch nichts Vollendetes. Der aber angefangen, vollendet auch, und Er sei hochgelobt, dass Er nicht bloß anfängt, sondern auch vollendet. Mein Christentum muss mehr ins tägliche Leben, in die große Drangsal hinein (Offenbarung 7), in das tägliche Verleugnen der geringsten Dinge, in das Zusammenhalten der Gedanken und Phantasien, in die Tötung der Eigenliebe im Kleinen; kurz, mein Wandel muss mehr vor dem Herrn geführt werden. Meine Brüder! Oetinger sagt in einem Lied:
Gott selber will uns alles sein in jeglicher Minute;
Wer das nicht glaubt, folgt leerem Schein und tut sich nichts zugute.
Wer's glaubt, der trachtet auf der Stell', auch in den kleinsten Dingen
Nur treu zu sein; das ist der Quell, sein Glück recht hoch zu bringen.
Da wirkt Gott mit. - An dieser Spur ist Gläubigen gelegen;
Da ist weit über die Natur Dein Wink, Herr, unser Segen.
Die geringsten Dinge in das Leben mit Christus hineinzuführen, das ist Weisheit . Liebe Brüder, ich glaube, auch wir müssen auf diese Spur mehr merken. Wir phantasieren zu viel und tun zu wenig. Versteht mich recht: Wir tun wohl etwa viel, aber (so finde ich es wenigstens an mir) zu viel auf eigene Faust, nicht in der Furcht und Gegenwart Gottes, so manches, ohne uns zu fragen: Gefällt es Ihm oder nicht? Sondern eben, wie es kommt. Diese geistliche Gedankenlosigkeit ist etwas Arges und nimmt alle Kraft." Hiermit wollte er kein neues Gebäude der Selbstgerechtigkeit aufführen, noch auch den Turm einer besonderen Selbstvervollkommnungs-Lehre erbauen; der Wunsch, alle, auch die geringsten Dinge in das Leben mit Christus hineinzuführen, war vielmehr nur eine gesunde Frucht des Glaubens, der danach trachtet, Christus immer vollkommener zu ergreifen, nachdem er von Christus Jesus ergriffen ist. „Was meinen Herzenszustand betrifft," sagt er deswegen in einem Schreiben aus jener Zeit zu seinen Vertrauten, „so muss ich bekennen, dass ich mich mehr aufs Glauben lege als zuvor. Es beschäftigt mich immer der Spruch: „Mit Einem Opfer hat Er auf ewig vollendet alle, die geheiligt werden." (Hebr. 10,14). In dem hierüber gedichteten Lied: „Einmal ist die Schuld entrichtet" steht eine Strophe, die mir sehr wohl getan hat:
Alle unsre Schuldigkeiten, die Gott von uns fordern kann,
Sind hinaus auf alle Zeiten nun auf einmal abgetan.
Einer hat sie übernommen, alles ist in Richtigkeit,
Und seitdem der Bürg' gekommen, ist es nicht mehr Zahlungszeit.
Das tut einem armen, ausgeleerten Herzen sehr wohl.
Wir müssen mehr von unserem wechselnden Gefühl abkommen, liebe Brüder, insofern wir darauf unsere Hoffnung gründen. Denn der Grund unserer Hoffnung liegt nicht in uns, sondern in Christus; da ist er fest und reicht hinein in das Inwendige des Vorhangs.
Ach, wie viel Selbstgerechtigkeit ist in diesem Herzen! Wenn ihm alles genommen ist, so will es doch wenigstens das aufweisen können, dass es einen redlichen Ernst habe. Armes Herz! siehe, dein Herr hat deine Unredlichkeit schon gesehen, ehe du warst, und dies alles ist in den Schuldbrief hineingerechnet, den Er zerrissen hat. Wie lange soll es denn anstehen, dass du deinen Heiland nicht ganz annimmst um dieser oder jener Ursache willen, die in dir ist? Welch ein Unglaube! Und glaubst du denn, es werde dir ohne Ihn je besser gehen? Nein, täglich schlimmer und ärmlicher! Sage doch: Wenn es besser ginge, würdest du dir nicht selbst gefallen und einen Christus daraus machen? - Wenn der elendste Heuchler und Bösewicht nicht selig werden kann, so kann ich es auch nicht; aber ich weiß, dass auch die Sünden der Heuchler und Bösewichte gebüßt sind, folglich auch die meinigen. Seiz (ein frommer Geistlicher in Württemberg, längst entschlafen) sagt: „Nichts hat mir in meinem Lauf wohler getan, als dass ich alle guten Gedanken und auch Hoffnungen von mir gleich zum Anfang aufgegeben habe." Das ist evangelisch, das heißt, etwas aus der Gnade und dem Verdienst Christi machen und nichts aus sich selbst. Das heißt Wahrheit. Ach, man betrügt sich so lange! Der Mensch sagt: Ich muss erst so und so werden! Ja, aber ganz anders, als du es dir dachtest. Denn 1) wirst du es nicht wissen, dass du es bist, sondern dein Schatz wird mit Schwachheit umkleidet sein; 2) wird auch deine Demut ganz anders sein, als du sie dir vorstelltest. Du verstandest vorher unter Demut so etwas, wobei du hochmütig sein könntest (nicht wahr?), und stattdessen wirst du eine Demut erlangen, die aus der Wahrheit kommt; du wirst ein wirklicher Sünder werden vor Gott, und kein gemalter. Du wolltest eine Liebe haben, wobei du nur aus deinem eigenen Schatz hervornehmen dürfest, was dir beliebte, und du wirst hinfort in dir selbst nichts als Kälte fühlen, und dein Jesus wird dir Liebe geben, wo du sie brauchst. ,,Aber," sprichst du, „ich darf Christus nicht so ganz als mein Eigentum annehmen!" So? Wer hat dir das gesagt? Der Glaube oder der Unglaube? Christus oder der Teufel? Schlag die alte Schlange auf den Kopf und wage es einmal, schlechte Seele. Wag es, sei so keck! Siehe, du hast nichts als Sünde, Er nichts als Gerechtigkeit!
Warum schreibe ich solches? Erstens, um meiner selbst willen, um mich wieder aufzurichten; zweitens, um euch meinen geistigen Zustand zu sagen; drittens, um dem oder jenem von euch, der in diesen Klippen steckt, Mut zu machen. Wir trauen uns so viel, dem Heiland so wenig zu; auf uns, da wollen wir alles wagen, auf den Heiland nichts. Ist das nicht jämmerlich? So viel Unglaube und so wenig Glaube, wo will das hinaus? Wie lange soll man in seinem eigenen Schmutz liegen bleiben? Steht das auch in der Bibel? Nein, aber das steht darin, dass Gott vorhält den Glauben jedermann, heiße er nun A oder B. Wenn ich ins gesetzliche Wesen hineinkomme und meine Sache bloß auf eigene Erfahrungen und meinen wandelbaren Herzenszustand gründen will, so habe ich nichts als Unruhe. Wenn ich aber meine verdorbene Sache nehme und lege sie ins große Opfer des Einen hinein, dann kommt Ruhe. Tue ich es aber nicht zu viel, nicht zu keck? Nein, zu wenig und zu unkeck, das ist der Fehler. So ist nun in mir selbst nichts als Unruhe und Verdammung, aber in Christus nichts als Seligkeit und Vergebung. In Sein Verdienst hülle ich meine Blöße, und darin allein finde ich Frieden. Und damit ist Er gewiss zufrieden; ja, wenn ich es noch kecker und freimütiger machte, so wäre es Ihm desto lieber. Will Er denn nicht meine Ruhe? Will Er nicht meine Seligkeit? Will Er denn meine Unseligkeit? Das sei ferne! Darum ist Er nicht gekommen, dazu hat Er mir Sein Wort nicht gegeben. Ach, wie töricht sind wir von Natur, wie unnötig plagen wir uns! Haltet mich aber, liebe Brüder, doch für keinen Glaubensmenschen; ich fange das erst an zu werden; aber mit Seiner Kraft will ich es noch mehr werden!"
Neben dem Predigtamt nahm eine ausgebreitete Seelsorge, die er an der Stelle seines kranken Vaters zu übernehmen hatte, die volle Tätigkeit des Seligen in Anspruch. Aber auch hier durfte er oft die wohltuendsten Erfahrungen von der herrlichen Macht des Evangeliums machen. Weil ihn Gott zuvor selber auf der besten Bildungsstätte gründlicher Seelsorger, auf der Hochschule der Leiden, erzogen hatte, - „Ein Tropfen Trübsal," sagte er selber einmal, „tut mehr als hundert gute Worte und Regeln," - so besaß er eine besondere Geschicklichkeit, das Wort auch am Krankenbett nach der Verschiedenheit des Bedürfnisses auszuteilen und mit den Müden zu reden zu rechter Zeit. Auch im eigenen Haus, am Kranken- und Sterbebett des Vaters, dessen Pflege bei Tag und Nacht er mit der Mutter selber übernahm, war es ihm vergönnt, so recht mit eigenen Augen zu sehen, wie der Herr an einer aufrichtigen Seele sein Gericht ausführe zum Sieg. Jener, ein grundredlicher Mann und treuer Diener der Kirche, aber aufgewachsen in einer dürren, glaubenslosen Zeit, war erst in späteren Jahren aus dem trockenen Verstandesgeleise seiner mit allem Fleiß gesammelten Schultheologie in den bewegteren Lebensstrom einer auf Erfahrung gegründeten Herzenstheologie hinübergeleitet worden und wurde nun von dem Herrn unter immer mehr sich häufenden Heimsuchungen der Vollendung entgegengeführt. Der Sohn war dem Vater in seinem inneren Leben vorausgeeilt; umso ungetrübter war die Freude, als er sich von ihm mit gewaltigen Schritten eingeholt sah. Er sprach sich hierüber in einem Brief, worin er den Freunden das Ende seines seligen Vaters mitteilte, folgendermaßen aus: „Mein lieber Vater ist zum Heiland gegangen. Im vorigen Sommer wiederholte sich sein Schlaganfall auf einer Reise, die wir von Feuerbach (1 Stunde von Stuttgart) herein machten. Er und ich saßen allein auf einer Chaise; 800 Schritte vor dem Ort brach die Achse; dabei regnete es erstaunlich. Wir schickten den Kutscher fort, eine andere Chaise zu holen, und wollten da auf der Straße bleiben, bis er von Stuttgart wiederkäme, d. h. drei Stunden lang im Regen bei hereinbrechender Nacht. Kaum war der Fuhrmann fort, so klagte mein Vater über einen lahmen Arm und Fuß. Kein Mensch war bei uns; ich verstand aber gleich, dass es ein Schlaganfall war. Sofort taten wir, was wir konnten, frottierten die Glieder stark, und da der Kutscher immer nicht kam, sandten wir einen vorbeigehenden Mann nach Feuerbach, durch dessen Besorgung mein leidender Vater von den herbeieilenden Leuten aus dem Ort in denselben zurückgebracht wurde. Zwei Tage darauf transportierten wir ihn nach Stuttgart, wo er nach einiger Zeit wieder ausgehen konnte. Seine äußeren Kräfte nahmen jedoch allmählig ab, seine inneren zu. Nach einem neuen Krankheitsanfall, zehn Wochen vor seinem Tod, kam er in eine große Buße. Er bekannte seine Sünden (nicht äußerliche), sondern seine Undankbarkeit gegen den Heiland, mit großer Zerbrochenheit; es war ein großes Werk des Geistes in ihm. Kurz, wir hatten das seltene Schauspiel, wie dieser gewaltige Mann, dieser starke Verstandesmensch, alles, auch seine bedeutenden Kenntnisse, in die Schanze schlug um Christi willen (was eine große Lehre für andere ist!) und zu einem Kind Gottes umgeschmolzen wurde. Er war ein Prediger der Gerechtigkeit auf seinem Leidenslager und schlug sterbend mehr Philister um als lebend, wie Simson. Gegen das Ende kam Freudigkeit, große Freudigkeit, zum Heiland zu gehen. „Von Rechts wegen," so sprach er, „gehöre ich in die Hölle; aber mein Recht an den Sohn Gottes und an sein heiliges Verdienst ist noch größer, und das gilt!" Und so ward endlich dieses gewaltige Leben (am 27. Dezember 1824) ausgehaucht."
Die Eindrücke, die beim Tod des Vaters sein Gemüt bewegten, sprach er vor der Gemeinde in der Predigt am Sonntag nach dem Neujahr 1825 aus, welche in diesem Predigtbuch S. 96 ff. zu lesen ist. Der größere Teil der Gemeinde, von dem Wunsch beseelt, den Sohn als Diakon behalten zu dürfen, reichte eine mit zahlreichen Unterschriften bedeckte Bittschrift in dieser Richtung ein. Ein richtiges Gefühl aber sagte es dem Seligen von Anfang an, dass ihm ein längeres Wirken in Stuttgart nicht wohl beschieden sein werde. „Gottlob!" so bekennt er in dieser Beziehung unter anderem in einem Schreiben vom 18. Januar 1825, „Jesus schenkt mir, dass ich innerlich ruhig sein und alles Seinem Willen anheim stellen kann. Auf der einen Seite fühle ich freilich wohl, welch einen Schmerz es mir bereiten wird, von Stuttgart, von so vielen Verbindungen, von so manchen pflegebedürftigen Seelen, von dem Ort zu scheiden, wo der Herr meine Wirksamkeit auf eine so besondere Weise gesegnet hat. Denn das Wort Gottes ist offenbar worden an vieler Gewissen, und obgleich wohl viel Menschendienst dabei ist und war, so gehe ich von hier dennoch mit der Überzeugung, dass ich nicht ins Leere hinein, nicht umsonst gelaufen bin, noch vergeblich gearbeitet habe; ich denke vielmehr, manche Seele ist für den Heiland gewonnen worden. Ja, ich vermute dieses nicht allein, sondern ich weiß es; denn der Ruhm dafür gebührt ja lediglich dem teuren Heiland; warum sollte ich es nicht sagen dürfen? Auf der einen Seite wird man mir also das Herz herausreißen, wenn man mich fortschickt, und ich glaube, auch manchen anderen wird es weh tun. Auf der anderen Seite aber wir es auch gut sein, wenn ich manchen Leuten aus dem Gesicht komme. Spreu und Weizen muss sich mehr sondern. Auch möchte ich aus manchem Versuchlichen hinaus und in die Stille, was hier kaum möglich ist. Mein Ideal heißt: „Hier übel genennet und wenig gekennet!" So stelle ich mir einen gediegenen Christen in dieser Welt vor, finde aber in mir noch vielfach das Gegenteil. Sogar mein natürliches Gemüt ist dieses Lebens und Lobens satt.
Nun, meine Tage stehen in des Herrn Händen, und Er stellt seine Leute, wohin Er will. Nach allem, nach meinen äußeren und inneren Verhältnissen zu schließen, wird meines Bleibens hier nicht mehr allzu lange sein. Es erhellt dieses auch aus meiner Predigtweise, die wegen ihres erwecklichen Bußcharakters wohl nicht über zwei Jahre an einem Orte passt; denn auch die schärfsten Anfassungen werden die Leute nach und nach gewohnt und verderben sich zuletzt damit den Appetit, so dass sie endlich lauter Gewürz essen wollen.“
Aber auch anderswo sollte ihm nicht so bald ein neues Arbeitsfeld angewiesen werden; noch tiefer hinab in die Kammern des Leidens und der Anfechtung wollte ihn zuvor zu seiner eigenen Durchläuterung die verborgene Weisheit des Herrn führen. Über sein neues Erkranken im Februar 1825, über die mancherlei Heilversuche und Reisen, die er zu bestehen hatte, über das schreckliche Nervenfieber, das ihn im November 1825 an den Rand des Grabes stellte, hat er bereits selber in seinem Lebenslauf einiges mitgeteilt. Zur Vervollständigung möge angeführt werden, was er über diese eigentümliche Trübsalszeit in einem Rundbrief an seine auswärtigen Freunde vom Spätjahr 1826 erzählt: „Seit meinem letzten Brief," sagt er darin, “ist mir unter der treuen Leitung Gottes gar vielerlei begegnet. Nach meines lieben Vaters Tod wollten mich die Stuttgarter zum Diakon bei St. Leonhard haben und bestürmten den König mit Bitten und Unterschriften. Mittlerweile fiel ich in eine gelinde Krankheit, die sich nach und nach zu meiner früheren Schwäche der Kopfnerven gestaltete, so dass ich mich vom Februar 1825 bis zum Februar d. J. nicht erinnern kann, ein Buch gelesen zu haben außer dem göttlichen Wort und einigen kurzen Briefen.“ Von einer Arbeit im Weinberg des Herrn war ohnehin keine Rede; ich war vom Heiland wieder in Pensionsstand versetzt. Ich geriet in Sorgen, auch wegen des künftigen Durchkommens, ohne Vermögen, ohne Besoldung, ohne Amt, einer Krankheit preisgegeben, die mich, nach früherer Erfahrung, wenigstens zwei Jahre lang hinhalten konnte, meine Mutter und meinen geisteskranken Bruder bei mir, der seinen Lebensunterhalt zum Teil von mir erwartete. Zudem sollte wieder ein Bad nebst anderen Kuren gebraucht werden. Die Aussicht war nicht lieblich; der Herr aber sorgte für uns. Er gebrauchte die Stuttgarter Freunde zu Seinen Werkzeugen, und ich werde den Dank gegen diese Leute mit in die Ewigkeit hinübernehmen. Mit viel Zartheit und Schonung wurde uns auf den verschiedensten Wegen und von verborgenen Freunden immer so viel zugesandt, dass wir ohne Kummer leben und auch die nötigen Kuren gebrauchen konnten. Im August 1825 kam ich von St. Moritz zurück und wartete nun in Stuttgart auf eine Anstellung, ward krank, konnte nicht lesen, nicht studieren, hoffte und hoffte, wo nichts zu hoffen war, setzte meine Hoffnung auf den Herrn unter viel Unglauben, Zweifel und anderen bösen Tücken. So dauerte es bis zum Ende Oktober, da es Gott gefiel, mich mit der härtesten Krankheit heimzusuchen, die ich jemals erlebt hatte. Vom November weiß ich gar nichts mehr als unzusammenhängende Träume und Phantasien. Es war der höchste Grad von Nervenfieber, und ich wurde von den Ärzten schon völlig aufgegeben. Mein treuer Jesus aber, der mich nicht wollte verloren gehen lassen und der meine Seele sucht mit unaussprechlicher Geduld, errettete mich aus dieser großen Trübsal. Was die getreuen Brüder in Stuttgart während dieser Zeit an mir getan, wie sie ohne Ekel mich gehalten, bewacht, mit Eisumschlägen bedient, getragen, hingelegt und sonstige Treue bewiesen, das kann ich nimmermehr vergessen. Der Heiland, der einen Tropfen Wasser vergilt, den man einem durstigen Jünger reicht, wolle es diesen Brüdern anschreiben und vergelten! Nach einer fehlgeschlagenen Meldung um Stammheim bei Ludwigsburg bewarb ich mich nunmehr um Rielingshausen und wurde dahin auch ernannt. Ich wünschte noch einmal in Stuttgart zu predigen; da mir dies aber von gewichtigen Leuten missraten wurde, so stand ich davon ab. Was ich in dieser Zeit erfahren von der bestimmtesten, speziellsten Aufsicht Gottes über Seine Kinder, was ich erfahren von den Wegen dessen, der bald mit Lieben, bald mit Leiden kommt, das (wovon ich euch hier gleichsam nur den Rahmen des Gemäldes geliefert habe), das soll, wie ich hoffe und bitte, mir ewiglich eingedrückt bleiben."
„Näher kann man wohl nicht an der Ewigkeit stehen," setzt er in einem anderen Schreiben aus jener Zeit ergänzend hinzu, „als ich im Nervenfieber daran gestanden. Aber wo bleibt nun der Dank, dass der Herr mich unfruchtbaren Baum noch länger stehen ließ? Ach, mein Heiland! Wo bleibt denn der Dank? Soll denn mein hartes Herz nicht durch Wohltun, nicht durch den Ofen der Trübsal, durch gar nichts können zur Aufmerksamkeit gebracht werden? Ich habe die Erfahrung gemacht, dass nichts hinreicht, einen Menschen auch nur zu einem einzigen wahren Gefühl über sich und seinen Gott zu bringen, nichts als das Blut Christi. Das Blut Christi, des Lammes Gottes, muss her, und, o ewige, ans Kreuz geheftete Liebe! - so hart bin ich, und so weich und so gnädig bist Du, dass, als Du sahest, dass keine Macht imstande ist, meinen erstorbenen Willen zu beleben und dass kein Mittel vorhanden ist, als Dein unschuldiges Blut, Du dasselbe in heißer Läuterung hingabst, um mich zu heilen. Nein, Brüder, Er, das Lamm Gottes allein ist es wert, dass Ihn jeder Blutstropfen ehre! Aber so schreibe ich, das ist mein Glaube, mein Licht in nüchternen Stunden; aber diese nüchternen Stunden sind nicht immer da. Eben übergebe ich mich der ewigen, gekreuzigten Liebe, und gleich darauf sündige ich wieder, wenn auch nur mit Zerstreutheit, Blicken und Gedanken. Wie stimmt solches zusammen? Ich gedachte: Deine dir neu geschenkte Lebenskraft soll allein im Dienste deines himmlischen Königs verzehrt werden, und ich gedenke noch daran, und es ist mir noch also ums Herz - aber wo bleibt die Übung? So Du, Herr, Sünde zurechnen willst, wie könnte ich armer, unreiner, von der Sünde vergifteter Mensch bestehen? Auf einer alten Goldmünze las ich neulich eine lateinische Inschrift, die deutsch also lautet: „Gerechter Vater! Sieh nicht an die Menge meiner Übertretungen, sondern sieh an das Angesicht Deines geliebtesten Sohnes, meines Bürgen und Heilandes!” Auf der Kehrseite war das Angesicht des Heilands eingeprägt. Das kann ich auch sagen; denn mein Elend treibt mich zu Seinen Wunden."
Ehe er die ihm übertragene Pfarrei bezog, richtete er einige Abschiedsworte an seine Freunde in Stuttgart, die er drucken und in den Familien verteilen ließ. Sie sind vom 24. Juni 1826 und lauten unverkürzt also:
„Da mich Gott seit einigen Wochen mit körperlichem Übelbefinden heimgesucht, so wird es mir unmöglich, vor meinem Abgang von Stuttgart noch alle die Besuche zu machen, welche ich teils versprochen, teils mir vorgenommen habe, zu welchen mich Liebe und Pflicht auffordert. Ich wähle daher diesen Weg, um meinen lieben Freunden in Stuttgart noch kurz einiges zum Abschied zu sagen.
Vor allem möchte ich meinen herzlichen Dank aussprechen für die Liebe und Teilnahme, die ich mit den Meinigen in leichteren und besonders in schwereren Zeiten hier erfahren habe, die auch meinem selig vollendeten Vater, dessen irdische Überreste hier der Stimme des Sohnes Gottes zur Auferstehung entgegenharren, zuteil geworden ist.
Wir müssten weder von uns selbst noch von der Heiligen Schrift einige Kenntnis haben und wohl in den törichtesten Eigendünkel versunken sein, wenn wir nur ein Teilchen dieser Erfahrungen auf unsere Rechnung schreiben wollten. Wir wissen es, gottlob, von wem alles Gute kommt, und kennen den, der in unserem Hause Sein großes Regiment bis jetzt geführt hat und noch führt, und wir können alle Menschen nicht anders ansehen denn als Werkzeuge in Seiner gewaltigen Hand. Aber darum sind wir doch diesen Werkzeugen zum innigsten Dank verpflichtet. Die lieben, teuren Seelen, die so herzlichen Anteil an meinem und der Meinigen Schicksal genommen haben, die in unseren Trübsalen, ja in unseren schwersten Leidensstunden mit Trost, Rat und Tat uns beigesprungen oder auch für uns vor den Vater aller Barmherzigkeit und Gnade getreten sind, ich kenne sie bei weitem nicht alle; aber ich weiß, dass der Herr sie kennt, und es ist meines Herzens Wunsch, dass Er sie alle auch als die Seinigen an jenem Tage erkennen möge.
Blicke ich nun auf die Zeit zurück, welche ich in dieser Stadt zugebracht habe, so zeigt sich mir Unzähliges, darüber ich mich wundern, ja erstaunen und anbeten muss. Durch eine unmittelbare Hand Gottes hereingeführt, haben wir es in tausendfacher Beziehung erfahren, was der Allmächtige kann und welche Friedensgedanken Er über die Menschenkinder hat.
Unter diese Erfahrungen rechne ich auch das, dass ich nun bei meinem Abgang von hier die Hoffnung hegen darf, auch für andere nicht umsonst hier gewesen zu sein und nicht ganz vergeblich gearbeitet zu haben. Viel Same des Wortes Gottes ist freilich auf den Weg, vieles unter die Sorgen und Reichtümer dieses Lebens hineingefallen und nicht aufgegangen; manches ist auf Felsengrund geraten, wo es Anfangs lustig aufging und gute Hoffnungen erregte, aber nach und nach verdorrte, weil es nicht Wurzel schlagen konnte. Indessen glaube ich doch im Vertrauen auf die Verheißung des lebendigen Gottes (Jes. 55,10 ff.), dass auch manches ein gut Land gefunden hat und noch seine Frucht tragen wird zu seiner Zeit in Geduld. Es ist der Wille des Vaters, dass der Sohn verklärt werde in den Herzen der Menschen durch den Heiligen Geist, und diesen Liebeswillen hat Er an manchen erfüllt und wird ihn noch an vielen erfüllen; denn Seine Barmherzigkeit ist groß und Sein Haus noch lange nicht voll (Luk. 14,23). Doch lasst uns eilen hineinzukommen, ehe die Tür verschlossen wird (Luk. 13,25)! Lasst uns eilen, damit wir dem, der uns erkauft hat, den Lohn Seiner Schmerzen und Seiner Arbeit nicht entziehen (Jes. 53,4)! Denn Ihm gehört alles! Er ist der Anfänger und Vollender der Seligkeit; alle Ehre und aller Ruhm gebührt nur Ihm. Wenn in der seligen Ewigkeit, wohin ich nur durch Sein Verdienst, aus der lautersten Barmherzigkeit, hindurchzudringen hoffe, mir eine gerettete Seele begegnen sollte, die mir sagen würde, dass sie durch meinen hiesigen Dienst am Evangelium auf dem Weg des Lebens gefördert worden sei, so wollte ich mich tief beugen und auf mein Angesicht fallen und auf den weisen, der sich hat schlachten lassen für die Sünden der Welt. Er allein ist würdig, zu nehmen Ehre, Ruhm und Anbetung; Menschen sind nichts.
Diesem unserem Gott und dem Wort Seiner Gnade befehle ich nun meine hiesigen Freunde und mich mit den Meinigen, ja diese ganze Stadt. Er wolle Satans Reich zerstören und seinen boshaftigen Anschlägen begegnen! Er möge doch die, so Ihn suchen, auf den rechten Grund gründen, Seine Gemeinde aus aller Anfechtung erretten, noch recht viele Sündenknechte von ihren Ketten entbinden, denen aber, die schon Leben von Ihm empfangen haben, dieses erhalten und vermehren bis auf den Tag der ewigen Erlösung, wo diejenigen, welche ihre Kleider gewaschen und gebleicht haben in Seinem Blut, werden würdig sein zu stehen vor des Menschen Sohn!"
Am 1. Juli 1826 mit seiner Mutter, die auch jetzt seine unzertrennliche Gefährtin bleiben wollte, in Rielingshausen, einem fünf Stunden von Stuttgart entfernten Pfarrdorf, angelangt, hielt er seine Antrittspredigt tags darauf über Jes. 45,11: „So spricht der Herr, der Heilige in Israel: - weiset meine Kinder und das Werk meiner Hände zu mir." Im Gefühl seiner geistigen und körperlichen Schwäche begann er etwas leise mit dem Liedervers von Hiller:
Dass ich schwach bin, wird Er wissen,
Dass Er stark ist, weiß auch ich.
Der mich aus dem Tod gerissen,
Ist noch dieser Gott für mich.
Aber unter dem Vortrag hob sich seine innere und äußere Kraft, so dass er den Segen, den der Herr auf dieses erste Zeugnis vor seiner neuen Gemeinde legte, als ein neues Pfand dafür entgegennahm, dass Er ihn, wenn auch nur für kurze Zeit, so weit kräftigen werde, um noch eine Frucht fürs ewige Leben schaffen zu dürfen. Sowohl in dieser Antrittspredigt als auch in der später gehaltenen Einführungspredigt über Joh. 12,32.33 war es dem Seligen so recht darum zu tun, die Generalinstruktion aller Knechte Jesu, wie er sich ausdrückte, die Anweisung, wie sie das Amt des Neuen Bundes zu führen haben, in das vollste evangelische Licht zu stellen. Zum großen Abendmahl des seligen Gottes einzuladen, den Sündern Mut und Herz zum Heiland zu machen und Ihn in seiner Liebenswürdigkeit und Unentbehrlichkeit vor die Augen ihres Geistes zu malen, das werde sein Lieblingsthema im Predigtamt sein. Dass er aber eben hiermit nicht nur die besondere Gabe Christi, die ihm zuteil geworden war, wohl begriffen, sondern auch bei seiner Gemeinde die rechte Saite angeschlagen habe, hat der Erfolg bewiesen. Anfangs war er genötigt, seine noch unerstarkte Gesundheit so viel wie möglich zu schonen und ihr während einer Badekur noch einige Wochen Ruhe zu gönnen; aber auch in Rielingshausen sollte er bald das begnadigte Werkzeug einer besonderen Erweckungsmacht des Evangeliums sein. Zwar ging es auch hier wieder, wie er bereits in Stuttgart erfahren und in seinen Abschiedsworten näher bezeichnet hatte, nach Luk. 8,5ff. Bei manchen aber kam es doch wenigstens zum ernsten Fragen nach dem Weg des Friedens und der Seligkeit. Er selbst sagt in einem Schreiben an seine auswärtigen Freunde vom 2. Oktober 1826: „Das hiesige Dörfchen ist friedlich und still, in ein Tälchen hineingeworfen, die Kirche, im Jahr 1811 neu gebaut, fasst zweimal so viel Leute, als hier sind (900 Ortsangehörige); es ist ein ganzer Missionsposten. Am Sonntag ist Sturm; Stuttgarter und Leute aus der ganzen Umgegend, drei bis vier Stunden weit, strömen hierher; sie wollen einander erdrücken um das Wort. Ich predige, was ich selbst brauche, Buße und Vergebung der Sünden, evangelischer als in Stuttgart. Der Heiland gibt es mir; ich bitte, ich flehe inständig: „Lasst euch versöhnen mit Gott! Kommt, Sünder, und blickt dem ewigen Sohn ins Herz, usw." Ich darf sagen, ich predige das Lamm, das geschlachtet ist. Das zieht die Geister; o Brüder, das zieht die Geister! Es ist schade um die vielen Worte, die man auf den Kanzeln macht, die nicht auf Ihn gehen. Meine Verhältnisse sind günstig. Meine lieben, mir anvertrauten Seelen, denen es im Äußerlichen wahrlich schlecht geht, die ungeheuer arbeiten müssen, um sich ihren schlechten Bissen Brot zu verdienen, ich sage, meine Rielingshäuser regen sich, es regt sich, wie wenn die Totenbeine wollten auferstehen. Manche haben sich auch schon wirklich erhoben. O, die Kraft der Predigt vom Lamm ist unbeschreiblich herzdurchschneidend! Es hat überwunden der Löwe aus dem Stamme Juda, und Er überwindet noch immer; vor Ihm brechen die Bollwerke der Vernunft zusammen wie Stroh, das im Feuer aufgeht. Die Kraft Seines Blutes dringt auf den Grund und Kern des Menschen und lässt nichts unberührt, das sie nicht durchginge.“
Das Verhältnis des neuen Pfarrers zu seiner Gemeinde gestaltete sich auf eine erfreuliche Weise. Obwohl das Wort vom Kreuz, mit solcher Kraft und Entschiedenheit vorgetragen, manchem im Stillen ein Dorn im Auge gewesen sein mag, indem das ernste Dringen auf Buße und Bekehrung sie auf eine sehr unbequeme Art in der behaglichen Fleischesruhe störte, so kam doch nirgends ein Zeichen von Widrigkeit und Feindseligkeit zutage. Im Gegenteil, sie taten ihrem Pfarrer viel zu lieb, stellten sogar einmal nach einer sehr ernsten Predigt die gewöhnlichen Hochzeits- und Kirchweihtänze ab und kamen auch seinen sonstigen Wünschen und Anordnungen mit Willigkeit entgegen, freilich nicht immer aus innerer Überzeugung, sondern manchmal bloß aus Rücksicht und Nachgiebigkeit gegen „ihren Pfarrer Hofacker." Er konnte ihnen in einem Schreiben das Zeugnis geben: „Meine Gemeinde liebt mich; in äußerlichen Sachen halten sie sich ehrbarer, als ich von ihnen erwarten konnte, so dass ich mich oft selbst wundern muss." Es bildete sich ein Singchor, eine Jünglingsversammlung usw. Der Sinn für die Mission erwachte; alle vier Wochen gab der Selige noch eine besondere Erbauungsstunde für Männer und Jünglinge im eigenen Hause, die zahlreich besucht wurde. Unverkennbar aber war es zweierlei, was ihm die Herzen seiner Gemeindeglieder im Allgemeinen gewann. Auf der einen Seite seine schlichte, allen zugängliche Leutseligkeit, womit er in der Unterredung auch auf die äußeren Gegenstände des Lebens einging und gar nicht geneigt war, stets nur vom hohen geistlichen Ross herab salbungsvolle Reden ertönen zu lassen. Alles Pfarrherrentum, auch in der besten Form und Absicht, war ihm in der Seele zuwider, obwohl er im Umgang mit den verschiedenartigsten Leuten der Mahnung Christi eingedenk zu bleiben suchte: „Habt Salz bei euch!" Auf der anderen Seite konnte ihm auch kein Gemeindeglied den Vorwurf machen, dass er sein in der Antrittspredigt gegebenes Wort gebrochen habe: „Ich bin nicht hier, um irdischen Gewinn unter euch zu suchen, nicht um reich zu werden, welches meine Sache - gottlob - bis jetzt nie gewesen ist; ich bin nicht hier um meinetwillen, sondern um euretwillen, ich suche wahrlich nicht das Eure, sondern euch." Die Zehntverhältnisse, mit denen damals die Pfarrei noch belastet war, gaben jedem Pfarrkind die Mittel an die Hand, diese so feierlich ausgesprochene Zusicherung alljährlich bis ins Einzelnste hinaus an den Prüfstein der Erfahrung zu legen. Bezeichnend für die Gesinnung des Verewigten in dieser Richtung ist besonders eine Stelle in einem seiner früheren Briefe an einen vertrauten Freund: „Nichts ist gewöhnlicher bei Christen," sagt er darin, „als ein Anflug von Geiz; dieser geht bei manchen Gemütern zuletzt hinaus, bei anderen aber gar nicht; nichts ist hässlicher und steht schnurstracks dem Evangelium mehr entgegen als das. Hurerei und Ehebruch sind keine ärgeren Sünden als dieser fein bemäntelte Geiz, dieses unter dem Namen einer weisen und vorsichtigen Sparsamkeit usw. unter gewissen lieben Leuten, die doch in den Himmel kommen wollen, gangbare Kräutlein. Wir müssen es uns einmal schenken lassen, dass es uns gleich gilt, ob wir viel oder wenig haben und dass wir mit Nahrung und Kleidung zufrieden sind, auch wenn wir nicht mehrere Gastbetten, schöne Sessel und Sofas und eine größere Anzahl von silbernen Löffeln haben. Es lässt sich mit einem blechernen Löffel so gut essen als mit einem silbernen, und hat man kein Porzellan, so hat man Zinn; da schmeckt es auch wohl, und wem es nicht schmeckt, der muss eben ein Stecklein dazustecken. Wir Württemberger sind zum Teil jämmerliche Leute in Bequemlichkeit, Flaum und Polstern und Überzügen und Tuchballen und Kisten und Kästen. Ach, wo ist die Nachfolge des armen Lebens Christi! Wir haben in unserem Haus, das auch einst am Sorgengeist litt, doch das weite Hinaussorgen nach und nach verlernt und das Sammeln mottenfressiger und diebsfähiger Schätze fahren lassen. Wir haben nichts, fast weniger als nichts im Vermögen; solange wir sorgten und unruhig waren, ging es herunter; durch Gottes Güte haben wir nun aber alles, was wir bedürfen, und noch mehr, ja auch die überflüssigen Ausgaben und die Krankheitskosten, so dass wir oft selbst nicht wissen, wie uns geschieht. Vorher aßen wir unser Brot mit Kummer, manchmal sogar in stillem Ärger und hatten es nicht gerne, wenn jemand mitaß; jetzt isst und trinkt man mit Danksagung und lässt andere gerne mitessen und wird erhalten durch Gottes Güte, die alle Morgen über uns neu ist."
Bald aber sollte dem Seligen mitten in der vollen Arbeit die neue Verleugnung auferlegt werden, abermals auf mehrere Monate sein gesegnetes Wirken unterbrochen zu sehen. Schon im Spätjahr 1826 setzte sich, wie es scheint als letzter Ausstoß seiner Nervenfieberkrankheit, an einem Finger der linken Hand ein bösartiges Übel an, das immer schädlicher auf seinen körperlichen Gesamtzustand einwirkte und seine Kraft mehr und mehr verzehrte. Eine völlige Auszehrung war in voller Annäherung begriffen. Man musste im Februar 1827 zur Abnahme des Fingers schreiten. Aber der Kranke war bereits in den Kräften weit zurückgeworfen und erholte sich nur äußerst langsam. Als eine besondere Wohltat aus der Hand Gottes nahm er die Aushilfe eines Verwandten, des Vikars Klemm an, dem er das Predigtamt und die Seelsorge mit Ruhe überlassen konnte. Das Herbste freilich, was das prüfungsreiche Jahr 1827 ihm bringen sollte, war ihm für die Zeit, da er sich kaum erst zu erholen begonnen hatte, noch aufbehalten. Der Herr nahm die innig geliebte Mutter nach kurzem Krankenlager am Himmelfahrtsfest, den 24. Mai, durch einen plötzlichen Tod von seiner Seite. Sie war ihm als unermüdliche Pflegerin und Trösterin in seinen Leidenstagen nach und nach beinahe unentbehrlich geworden; an ihrem kräftigen, männlichen Geist, dem eine gereifte Christenerfahrung zur Seite ging, fand der Sohn bei allen Begegnissen seines äußeren und inneren Lebens den wohltuendsten Anlehnungspunkt. Umso härter traf ihn dieser unerwartete Schlag. Er selbst äußert sich darüber in einem Brief an einen seiner vertrautesten Freunde folgendermaßen:
„Du weißt wohl, wie es mir diesen Winter über und dieses Frühjahr ergangen ist. Allem Ansehen nach hätte mich wenigstens der letzte Schlag in den Staub werfen sollen; aber er hat es nicht getan. Ich vermute, aus Mangel an Liebe zu meiner seligen Mutter. Dies will man mir nicht glauben, weil man mich um 50.000 Prozent jederzeit überschätzt. Aber ich bin härter und egoistischer, als man glaubt. Dem sei nun aber, wie ihm wolle; ich gönne es meiner lieben Mutter, die du ja auch gut gekannt hast, von ganzem Herzen, dass sie aus diesem elenden Leben erlöst ist. Seit sieben Jahren wurde ihr Schifflein durch beständige Stürme umgetrieben. Die zwei letzten Jahre waren fast noch die schwersten durch innere Not. Sie stand in der Buße fast bis an ihr Ende. Es gelang ihr, den Heiland noch am Saum seines Kleides zu fassen, und so ist sie hinüber. Wohin? Aus dem jämmerlichen Schuldturm in die Freiheit, zu den Schafen, die der Furcht entrückt sind.
Natürlich liegt nun viel mehr auf mir als zu Lebzeiten meiner Mutter. Ich war nur der Kostgänger im Hause, solange sie lebte; alles hatte sie unter sich, und sie verstand es. Meine Tante, die seit langer Zeit bei uns war, hält mir nun Haus, und so geht ein Tag um den anderen herum, und der Herr ist so herablassend gegen mich, dass Er, wenn mir nur von ferne eine Sorge aufsteigen will, mich derselbigen überhebt. Wie gnädig ist Er gegen mich! Ich kann mich nicht recht dareinfinden; und wenn ich den Lauf anderer betrachte, so weiß ich nicht, warum Er mich manchen Kelches, den andere trinken, so überhebt, dass er mir nicht einmal an den Mund kommt. Ich hoffe nun, bald wieder zum Besitz meiner ganzen Gesundheit zu kommen und will in ein paar Wochen wieder predigen. Ich habe eine Badekur gebraucht, die angeschlagen zu haben scheint. Indessen ist es mir doch immer, als ob ich nicht mehr zum vollen Besitz meiner Kräfte kommen werde. Die Sünde und nachher das Gesetz und aus beiden entsprungene Krankheiten haben mich um 20 Jahre älter gemacht, als ich bin.
Ich möchte aber doch auch noch etwas nütze sein in dieser Welt und an dem Reich Gottes bauen helfen, soviel an mir ist, ehe mein Lauf zu Ende geht. Dies ist mein Wunsch sowie dass mich der Heiland in seiner Versöhnung vorher ganz vollenden möchte. Herzlich geliebter Bruder, lass uns aufsehen auf Jesus und laufen durch Geduld in dem Kampf, der uns verordnet ist! Der Heiland führt alles herrlich hinaus. Dies habe ich nun schon so oft und unzählige Male erfahren. Sollte Er es nicht auch tun in dem, was mir am wichtigsten ist, in der Vollendung Seines Liebesrates an meiner und deiner Seele? Der treueste Seelenfreund Jesus erquicke und stärke uns zum ewigen Leben!“
Dieselbe Gesinnung einer immer mehr dem Himmel sich zuwendenden Entschiedenheit atmeten besonders auch die Briefe, die er in dieser Zeit an seine leiblichen Brüder schrieb, indem er an der Stelle der Mutter den Briefwechsel mit ihnen übernahm. In einem derselben redete er dem jüngsten, der damals noch auf der Universität sich befand, folgendermaßen ans Herz: „Lieber Bruder! Wenn wir nur auch selig werden, wenn nur keiner dahinten bleibt und das Haus Esau, das seit acht Jahren zu einem geistlichen Jakobshaus umgebildet wird, die Absicht Gottes auch erreicht! Es ist dies ein Anliegen, das mir oft ziemlich schwer daliegt und das mich vor den Thron der Gnade für euch Tübinger namentlich treibt. Nehmt mir nicht übel, ich maße mir hierbei nichts an; sondern seit dem Tod der Mutter hat mich Gott priesterlicher gemacht für meine Familie, als ich vorher war. Wenn es genug wäre, dem Wort Gottes Beifall zu geben, so könnte ich schon zufriedener sein. Aber der Mann der Schmerzen und der Liebe will uns ganz haben, und das erflehe ich für mich und für euch. Ich habe im Sinn, wenn mir Gott Gnade schenkt, hinfort in Jesus hineinzuwachsen, mich entschiedener zu erklären und zu betragen gegen die Welt als bisher. In Tübingen war ich sehr entschieden, aber durchs Gesetz; nachher wurde ich nachgiebiger, und jetzt möchte ich ein Mensch werden, der sein Angesicht stracks nach Jerusalem richtet, ein Ekel der frommen oder gottlosen Welt. - Lebt wohl, liebe Brüder! Gott erleuchte eure Herzen mit seinem Heiligen Geist und treibe euch an, die Gnadenzeit wahrzunehmen; denn die Welt vergeht.“
Wie in jenem Brief, so äußerte der Verewigte auch sonst das leise Vorgefühl, seine Abberufung vom irdischen Tagewerk möchte nicht allzu fern sein. Dies sowohl als auch das stille Heimweh nach der unvergesslichen Mutter war mit einer der Beweggründe, dass gerade jetzt der Entschluss, den er schon lange in sich herumgetragen, zur Reife kam, Hand an die Herausgabe seiner Predigten zu legen. Er spricht sich hierüber in seinem schriftlichen Nachlass so aus:
„Aber wofür wieder neue Predigten, da ja der alten schon zu viel sind? So möchte mancher fragen. Ich habe mich auch so gefragt und doch den Entschluss gefasst, in Gottes Namen etwas von meinen geringen Arbeiten in die Welt hinauszuschicken. Ich kam auf folgende Weise zu diesem Entschluss:
In Stuttgart, wo ich vom Jahre 1823 bis 1825 als Vikar das Evangelium predigte, wurde ich mehrere Male aufgefordert, meine Vorträge im Druck herauszugeben. Ich lehnte es aber jedes Mal mit Bestimmtheit ab, weil ich mich und meine Arbeit für zu jung hielt und mich dabei vor der Eitelkeit meines Herzens fürchtete. Im Jahre 1826 wurde ich hierher als Pfarrer versetzt. Meine Mutter zog mit mir und leitete, da ich unverheiratet bin, mein Hauswesen. Im Mai dieses Jahres gefiel es Gott, sie ins Vaterland heimzuholen. Wer sie kannte, wird es mir glauben, wenn ich sage, dass durch ihren Abruf eine bedeutende Lücke in meinem Haus entstand. Sie hatte mich sehr geliebt, und wir waren durch höhere als bloß natürliche Bande miteinander vereinigt. Nach ihrem Tod ging ich in meinem Haus umher und fand es unerträglich leer. Ich dachte nun auf eine Nebenbeschäftigung, die meinem verwundeten Herzen Nahrung geben und zugleich dem Reich Gottes einigen Nutzen schaffen könnte. Zu gelehrten Arbeiten im engeren Sinne habe ich weder Gabe noch Lust. So verfiel ich darauf, einige meiner hier gehaltenen Vorträge zum Druck zuzurüsten, und es hat mich dieser Entschluss bis jetzt noch nicht gereut.
Es bestimmten mich aber auch noch andere Gründe dazu. Wenn ich bis jetzt etwas wahrhaft Gründliches, Gläubiges, Erbauliches von Christus lesen wollte, so musste ich fast immer nach Schriften greifen, die vor der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts geschrieben sind. Ich weiß, dass diese Erfahrung viele mit mir teilen. Was der Lügner von Anfang an in neuerer Zeit durch den Betrug der Sünde und besonders des Hochmuts angerichtet hat, wie er eine Verdrehung und Verkehrung der einfachen Heilswahrheiten unter dem Titel des Lichts und der Weisheit eingeführt hat, wie es ihm gelungen ist, die Erkenntnis Jesu Christi in den Schatten zu stellen oder zu verfälschen, und wie er mit diesem Gift allenthalben durchgedrungen ist, wie sogar die meisten neueren Erbauungs- und Predigtbücher von demselben angesteckt, unbiblisch, unchristlich, seicht, ja ein dummes Salz geworden sind, dies alles bedarf keines Beweises; es ist schon oft bewiesen und gesagt worden; es sei dem Herrn geklagt.
Es erheben sich zwar wieder in unsern Tagen von manchen Seiten her Stimmen munterer Zeugen Jesu; aber sie sind immer noch sehr rar, und in die Hände der niederen Volksklassen in meinem Vaterland kommen sie selten; darum habe ich mich entschlossen, auch in meinem geringen Teil des Teufels Reich steuern zu helfen.
Ich weiß wohl, dass ich noch zu jung dazu bin, um etwas Gediegenes bieten zu können; es gehört mehr Erfahrung und Gnade dazu, als ich habe, um das Wort der Wahrheit recht zu teilen und in keinem Stück zu viel oder zu wenig zu sagen. Indessen habe ich mir Mühe gegeben, das rechte Ebenmaß zu treffen. Der Herr hat die mündlichen Zeugnisse, zu Seinem Preise sage ich es, an den Seelen gesegnet, und ich möchte eben, so viel an mir ist, auch etwas, wenn auch das Geringste, dazu beitragen, dass Zion gebaut würde. Gott hat schon unaussprechlich viel Barmherzigkeit an mir getan; Er hat mich, da ich Sein Feind war durch die Vernunft in bösen Werken, wie ich hoffe, auf Seine Wege gebracht; Er hat mir etwas in meinem Herzen von der Gnade und Wahrheit, die in Christus Jesus ist, offenbar werden lassen; Er hat mich bis jetzt an der Hand geführt wie die zärtlichste Mutter. Ich müsste Folianten schreiben, wenn ich die Wunder seiner Gnade alle erzählen wollte. Dies erzeugt in mir die Begierde, auch etwas zu schaffen, was für Ihn wäre. Und wenn ja dieses Geschäft gar keinen Nutzen stiften sollte, so habe ich doch wenigstens den guten Willen gehabt und die Schmach Jesu Christi nicht gescheut. Nicht dass ich damit wollte etwas Verdienstliches tun - das sei ferne! -, sondern ich weiß wohl, wie viel Unreines auch unter unser Bestes hineinfließt; ich hoffe auch auf nichts als auf Barmherzigkeit: aber wer will es mir verargen, wenn ich, so viel an mir ist, ein Steinchen zum Bau Zions herbeizutragen suche, taugt es nun oder taugt es nicht. Ob es tauge, kann nur der weise Baumeister recht beurteilen.“
Der Herr verlieh ihm auch Kraft und Mut, zwei Hefte mit 22 Predigten selbst noch herauszugeben. Die Urteile über diese Arbeit waren natürlich im Anfang sehr verschieden. Dass das Erbauung suchende Volk mit Freuden darnach griff, wird man natürlich finden; aber manche Gebildeten, namentlich auch Theologen und Prediger, selbst von der bibelgläubigen Seite, schüttelten den Kopf und konnten es dem jugendlichen Evangelisten nicht verzeihen, dass er die Waffenrüstung der alten, abgemessenen, in Beweisform auftretenden Predigtweise so rücksichtslos abgelegt und ganz einfach mit der Schleuder des göttlichen Wortes kühn und munter einherschreite. Einige meinten, bei der Schilderung des menschlichen Grundverderbens seien die Farben zu stark aufgetragen; andere, die Sittenlehre komme vor lauter Dringen auf Buße und Bekehrung nicht zu ihrem vollen Recht; wieder andere, das unverhohlene Zeugnis gegen die Irrlehre des Unglaubens und des Zeitgeistes gehöre nicht auf die Kanzel. Ein treuer Freund machte ihn auf derartige Ausstellungen aufmerksam; ihm erwiderte der Selige in einem Brief vom Frühjahr 1828 hierüber Folgendes:
„Dein Urteil über diese Predigten lasse ich dahingestellt. Aber über das andere, was du mir von einem guten Freund schreibst, kann ich kaum schweigen. Ich kann dieses Urteil nicht annehmen, ich mag es betrachten, wie ich will. Ich soll die Heilige Schrift überbieten? Ich bin mir dessen nicht bewusst. Kann man die Schrift überbieten oder ihre Lehren verstärken? Man kann ja ohnehin das Beste, was in einem liegt, nicht herausgeben; es ist unaussprechlich. O, wenn man mein elendes Gestammel ein „Überbieten wollen" heißt, so weiß ich nicht, was ich denken soll. Das ist wahr, darauf arbeite ich, und gewiss jeder, der im Weinberg Gottes nach Kräften zu arbeiten sucht, hin, die Lehren der Bibel herauszuheben, so gut ich kann; es ist dies oft eine schwere Geburt, bis ich die Art gefunden habe, wodurch ich am besten eine Wahrheit dem Menschen deutlich und eindrücklich machen kann. Ich gebe mir nicht geringe Mühe damit. Aber ist das nicht Schuldigkeit, dass ich suche an das Herz zu kommen, so gut ich kann? Schlafen sie nicht, wenn ich es nicht tue, wie ich es schon erfahren habe? Soll ich so langweilig als möglich über den Heiland sprechen? O, ich wollte, ich könnte noch mehr überbieten, wenn man es so heißen will! Ich wollte, ich könnte meine Worte zu Spießen und Nägeln machen für Verstand und Herz meiner Zuhörer. Dieses Urteil kann ich nicht annehmen.
Er sagt weiter, ich fasse den Zustand des Menschen anders auf als Christus und die Apostel. Hat er wohl auch schon Röm.3 gelesen? Und Röm.7? Und auch schon in sein stinkendes Herz geblickt? Ach, man ist in unseren Tagen weit vom Glauben und von der Einfalt der Väter abgekommen! Ich denke nicht daran, so zu reden, und rede auch nicht so und kann es auch nicht so, wie Arndt, Spener, Franke, Brastberger und unsere alten Württemberger. Man kann es nicht mehr so. Dort sehe man, wie diese den Menschen genommen haben! Man lese Luther! Aber es ist alles verwässert und in Vernunftbegriffe hineingedreht, aus der Wahrheit und Einfalt heraus. Die Alten sind bis jetzt ein Muster gewesen. Aber wer kann die Einfalt der Alten erreichen in dieser Zeit, in diesem Zeitgeist, der allenthalben laut und still auf uns einwirkt?
Was nun endlich „die Bekämpfung der Neologen" (der Lehrer des Unglaubens) betrifft, so ist solche auf meiner Stelle und in meiner Lage sehr nötig und zur Erweckung dienlich und treibt viele Seelen ins Gebet. Denn mein Wirkungskreis geht 3 bis 4 Stunden weit in die Umgegend; auch habe ich verschiedene Leute vor mir. Auch achte ich es für nötig, dem Landvolk zu sagen, wie viel Uhr es ist. Soll man warten und schweigen, bis der Antichrist kommt, der nicht so ferne sein möchte? Ich glaube, man muss die Lügen des Teufels enthüllen. Und gibt es keine Neologen unter dem Landvolk? Hat nicht der Geist der Zeit alles durchdrungen und alle angesteckt, „Magister, Schreiber, Doktoren und Pfaffen, Soldaten und Bauern?" Ist nicht die Furcht vor Gott, vor der Hölle, vor dem Jüngsten Tag größtenteils verschwunden? Herrschen nicht die Dämonen des Leichtsinns in der Luft? Kein Wort von diesem Urteil kann ich annehmen!"
Wenn jemand sagt, es sind schlechte Predigten der Form nach, der Ton ist nicht würdig, zu frech, zu keck, zu absprechend usw., siehe, das nehme ich gerne an. Aber wenn sie mir meine Materien angreifen, solches ist mir nicht erträglich. Denn ich habe nicht aus törichten, leichtfertigen Einfällen heraus gesprochen, sondern ich hoffe, dass ich mir, wenn mir Gott Kraft schenkt, wollte für meine Überzeugung den Kopf herunterschlagen lassen.
Nicht wahr? Ich bin doch sehr animos (hitzig) geworden? Halte es mir zugut; es mag wohl Eigenliebe darunter stecken, aber es steckt doch auch etwas von Wahrheitsliebe darunter. Bruder! Es ist mir recht wehmütig ums Herz, wenn ich in diese neologische Zeit hineinblicke. - Ich will einseitig werden, ganz einseitig, ganz auf die Seite des Herrn Jesus treten, welcher sei hochgelobt in Ewigkeit, trotz aller Feinde und Widersacher. Der Heiland wolle mir die Gnade erweisen, dass Er mich auch einst an Seinem Tage zu Seiner rechten Seite stehen lasse!"
Der Verewigte ahnte, während er diese Zeilen schrieb - es geschah am Abend des Osterfestes 1828 - nicht von ferne, dass er bereits am Morgen jenes Tages seine letzte Predigt gehalten habe. Und doch war es so. Den ganzen vorangegangenen Winter über nämlich hatte er zwar dem äußeren Anschein nach eine ziemlich gute Gesundheit genossen, aber vom Neujahr an, an welchem Tag er sich durch einen zurückgetretenen Schweiß erkältete, bereits im Verborgenen zu kränkeln angefangen. Jede Nacht wurde er von leichtem Fieberfrost und darauf folgenden Schweißen heimgesucht, die seine Lebenskraft insgeheim verzehrten. Den Tag über war er munter, widmete sich der Seelsorge und predigte fast alle Sonntage bis ins Frühjahr. An den drei großen Festtagen, Palmsonntag, Karfreitag, Osterfest geschah dies zum letzten Mal. Seit dem letzteren Tage, an dem „Jesus, der Todesüberwinder" der Gegenstand seines Vortrags war – die Predigt ist S. 307 ff. zu lesen -, betrat er Kanzel und Kirche nicht mehr. Eine heftige Brustentzündung warf ihn in der darauf folgenden Woche hart darnieder; und ob es gleich nach einiger Zeit wieder besser mit ihm wurde, so trat dennoch, infolge der allgemeinen Schwäche, bald eine Wassersucht an ihre Stelle, die ihm unaussprechlich viele Leiden verursachte.
Gerade beim Beginn dieser neuen Trübsalszeit fügte es Gott, dass der jüngste Bruder, Wilhelm, der in jenem Frühjahr die Universität verließ, als Vikar bei ihm eintreten konnte. Diesem wurde nun die gesegnete Aufgabe zuteil, nicht nur die ersten Versuche in der geistlichen Amtstätigkeit unter der treuen Leitung und Beratung des Bruders zu machen, sondern auch als Zeuge seiner Vollendungsleiden in den letzten acht Monaten seines Lebens ihm zur Seite zu stehen. Im Mai versuchte der Selige es zwar noch mit einer Erholungsreise nach Stuttgart, wo er abermals ungemein viel Liebe genoss und zugleich auch die meisten seiner gleichgesinnten Amtsbrüder bei einer zahlreich besuchten Konferenz zu sehen bekam; aber kränklicher und schwächer kehrte er von Stuttgart zurück, wo ihn Gott zweimal auf ärztlich verordneten Spazierfahrten aus augenscheinlicher Lebensgefahr errettet hatte. Er sah auch hierin einen Wink, sich nicht länger halten zu lassen, sondern alsbald nach Hause zurückzukehren. Hier aber begannen seine Leidenstage erst recht. Die Brust wurde sehr beengt, die Schwäche nahm zu, das Wasser häufte sich immer mehr an. Zwar versuchte man, demselben einen Ausweg in den Füßen zu öffnen. Nun aber schlug der heftigste Schmerz in diesen seinen Sitz auf. Sie wurden durch den Ausfluss des beißenden Wassers, das sich immer wieder ersetzte, im Innersten angegriffen; jede, auch die leichteste Hülle wurde unerträglich, jedes Ruhen und Verweilen im Bett peinvoll. Mehrmals schien zwar eine Besserung eintreten zu wollen; doch kaum glaubte er selbst und seine Umgebung - wenn auch nicht für Wiederherstellung seiner Gesundheit, doch wenigstens für ein noch längeres Verweilen auf Erden - Hoffnung schöpfen zu dürfen, so wurde diese stets wieder schnell zunichte. Seine Kraft verzehrte sich zusehends, und seine Erlösungsstunde rückte unter mancherlei Zwischenfällen, durch welche er das Schwanken zwischen Furcht und Hoffnung, zwischen Sterbensfreudigkeit und erneuter Lebenslust abwechselnd zu erfahren bekam, immer näher heran.
Im September, gerade zu einer Zeit, wo eine Erleichterung seiner Umstände eingetreten war, schrieb er an seine näheren Freunde: „Ich bin nun ein halbes Jahr krank, zu Zeiten sehr beschwerlich. Durch was ich in dieser Zeit in meinem Inneren durchgegangen, wäre zu weitläufig zu schreiben. Der Herr zog mich viel aus, gleich zu Anfang meiner Krankheit. Ich konnte mich recht arm dem Erbarmer nahen. Als ich am Ende Juli meinte, es gehe der Besserung zu, schlug die Sache plötzlich um; ich schwoll wieder an mit Wasser, dass ich im Bett liegen bleiben musste, wie man mich legte; der Tod schien sehr nahe. Da freute ich mich sehr und hoffte im Blick auf Jesus als der Ärmste die Seligkeit. Gott aber wendete es nun wieder anders, indem ich seit einiger Zeit von Woche zu Woche mich wieder wohler fühle. Und nun bringe ich den Tag in einem Sessel, die Nacht im Bett zu. Aber wie selig war ich damals, als ich hoffte zu sterben, gegen jetzt, da dieses arme Leben wieder zum Fenster hereinguckt. Ach Heiland! Du weißt es! Mit der Besserung bekam dieses Leben in meinem Geiste wieder eine lichtere Farbe, und der Heiland mit Seinem Himmel trat in den Hintergrund. Ich schäme mich sehr vor Ihm. Indessen bin ich noch nicht über den Graben und immer noch wassersüchtig. Mein Glaube geht oft nahe zusammen, nicht sowohl wegen der Krankheit, als durch innere Zerstreuung. - Der Tag ist lang; wenn man gar nichts zu tun hat und auch nichts tun kann, so ist es schwer, bei sich selbst zu bleiben. Was soll ich sagen? Ich hoffe auf Barmherzigkeit zum ewigen Leben. Liebe Brüder! Ob ich euch noch einmal in diesem Erdental sehen werde, weiß ich nicht. Es wäre nicht unmöglich, doch ist es eben nicht sehr wahrscheinlich. Ich wünsche, dass Jesus euch und mich unsere paar Lebenstage vollends an der Hand behalten möge! Die Menschheit geht Zeiten entgegen, die voll der wichtigsten Veränderungen, aber auch voll Jammers sein werden. Da kann man einander nichts Besseres wünschen als: Nur nicht von der Hand Jesu gewichen! Dieses werde an uns wahr! Jesus mache es wahr! Immanuel!"
Auch diese eingetretene Besserung, von der der Verewigte hier spricht, war nur eine scheinbare, die Krankheit schlug bereits nach wenigen Tagen wieder um; die Beschwerden häuften sich, so dass er bis zu seinem Tod, 8 Wochen lang, Tag für Tag, Nacht für Nacht in seinem Sessel ausharren und den Kelch der Leiden bis zur Neige trinken musste.
Was seinen inneren Gang unter diesen tiefen Leidenserfahrungen betrifft, so ging die Arbeit des Geistes Gottes bei ihm stets dahin, ihn, wie er selber sagt, mehr und mehr „auszuziehen“, ihn von seiner eigenen Gerechtigkeit zu entkleiden, ihn recht niedrig und klein in seinen eigenen Augen, ihn immer kindlicher und schmiegsamer gegen seinen Heiland zu machen und seinen Glauben an die freie Gnade Gottes in Christus Jesus immer fester zu gründen. Sein Geist beschäftigte sich deshalb auch oft und viel mit Betrachtungen, die auf das versöhnende Leiden und Sterben des Herrn Bezug haben; ja, noch in seinen letzten Tagen wies er oftmals auf ein an der Wand hängendes Bild des mit Dornen gekrönten Heilandes mit den Worten hin: „Das ist mein Mann". Eine besondere Erquickung auf seinem dornenvollen Pfad war ihm der oft wiederholte Genuss des Leibes und Blutes Christi, dessen er im heiligen Abendmahl teilhaftig wurde. Sein Bruder Wilhelm reichte ihm dasselbe von Zeit zu Zeit in den stillen Nächten, die er pflegend und tröstend an seiner Seite durchwachte. Auch Besuche, die er aus der näheren oder entfernteren Nachbarschaft, mehrmals sogar weither aus dem Ausland empfing, reichten ihm oft ein wohltuendes Labsal dar durch das geistliche Manna, das sie mitbrachten. Namentlich waren es einige im Wort Gottes und in eigener geistlicher Erfahrung wohlgegründete Christen aus dem Gewerbestand, die ihn durch ihren bewährten Glauben und gesalbten Zuspruch oftmals aufrichteten und auf den manchmal nur noch glimmenden Docht seines zerschlagenen Geistes das nährende Öl des Trostes träufelten. Wie er stets an der brüderlichen Gemeinschaft mit den Gläubigen ohne Unterschied des Standes und der besonderen christlichen Färbung festhielt, so bekam er auch den besonderen Segen dieser Gemeinschaft bis an sein Ende reichlich zu genießen.
Die Grundstimmung seines Herzens aber, die unter allen Abwechslungen im Inneren und Äußeren die vorherrschende blieb und mit welcher er auch getrost der Ewigkeit entgegenging, können wir wohl nicht besser bezeichnen als mit den eigenen Worten des Seligen, die in einem kurz vor dem Anfang seiner letzten Krankheit geschriebenen Brief an seine Freunde enthalten sind. Er sagt darin: „Wenn ich müsste auf den Christus in uns meine Zuversicht bauen, so wäre ich verloren. Das freut mich, dass das Blut Christi und Seine Gerechtigkeit gilt und für mich spricht, ohne mein Zutun. Was werde ich bringen können, wenn ich zu Dir komme, mein Heiland? Verleugnungen, Kämpfe, Gebetskraft, Treue, Liebe, Glauben? Nein, ich kann nichts bringen als Dich. Wenn Dein Auge dann in Gnaden auf mich sieht, so bin ich geborgen. Siehst Du aber in Ungnade auf mich, was ich millionenmal verdient habe, so muss ich in die ewige Finsternis. Doch Du bist die Liebe, das ewige Erbarmen!" Dies blieb der Anker seiner Hoffnung bis ans Ende. Jenes beugende Gefühl seiner eigenen Untüchtigkeit und Fluchwürdigkeit hinderte ihn jedoch nicht, oft kräftige Züge aus dem Becher der göttlichen Gnade zu tun, wie er denn selbst versicherte, dass er dieselben in dieser schweren, leidensvollen Zeit mit einer Kraft wie niemals vorher an seinem Herzen erfahren habe. Durch Gottes Gnade konnte er sich an das Verdienst seines Heilands so fest anklammern, dass er freudig rühmte, dass Er auch seine Schuld bezahlt, auch seine Sünden getilgt und ein Lösegeld erlegt habe, das auch für ihn in Ewigkeit gelte. Seinem Ende sah er mit steigender Sehnsucht entgegen. Als ein Knabe des Dorfes einmal in das Zimmer trat und beim Anblick der blassen, abgezehrten Leidensgestalt erschrocken zusammenfuhr, da erklärte er demselben mit großer Freundlichkeit, wie dieses auffallende Aussehen, das jenen so betreten gemacht habe, für ihn, den Kranken, nichts Erschreckliches, sondern vielmehr etwas Erfreuliches und Trostreiches sei: Weil die Bürgschaft darin liege, dass er nun bald zum Heiland kommen werde, wo er sein altes, so unkenntlich gewordenes Pilgerkleid mit einem viel schöneren und herrlicheren vertauschen dürfe. Besonders wurde in den letzten Tagen, wo die Fluten körperlicher Leiden über seinem Haupt zusammenschlugen, seine Sehnsucht, bei Christus zu sein und Vater und Mutter und viele im Glauben vorangegangenen Freunde zu schauen, immer brünstiger.
Je tiefer die Kräfte herabsanken, desto heftiger wurde der Kampf der sinkenden Hülle. Husten, Brustbeklemmung, allgemeine Schwäche füllten den Leidenskelch bis oben an. Die wunden Füße gestatteten keine Ruhe; sitzend, wie angekettet an seinen Sessel, musste er ausharren. Der Tag brachte keine Linderung, die Nacht kein Ende. Da vernahm man denn aus seinem lispelnden Mund, denn laut reden konnte er nicht mehr, Worte der Sehnsucht nach seinem Heiland, dass Er doch bald kommen und seinem Elend ein Ziel setzten möchte. Überwältigt von seinen Leiden stammelte er öfters: „Es ist genug, Herr; so nimm nun meine Seele!" Um seine Empfindungen und Seufzer bei der überhand nehmenden Schwäche besser festhalten zu können, hatte er einige Wochen vor seinem Ende angefangen, dieselben mit Bleistift auf kleine Papierstreifen zu schreiben. Einige fanden sich nach seinem Tod noch vor. Ihr Inhalt möge auch hier stehen: „4. Nov. Heute hat mir der Heiland eindrücklich gemacht, dass Er blutigen Schweiß für mich geschwitzt. Ach Herr! Gib mir einen unvergesslichen Eindruck! Schreibe Deine blutigen Wunden brennend in mein Herz hinein! Leider ist der ganze übrige Tag ohne weitere Eindrücke vorübergegangen. 5. Nov. Mein Jesus! Lass mich heute nicht leer, ob ich es wohl verdient habe! 6. Nov. Gestern Abend wollte ich ins Bett, um besser zu ruhen; aber wen Gott in den Sessel gesprochen hat, der soll nicht ins Bett wollen. Ich werde wohl im Sessel sterben müssen. Um 10 Uhr saß ich schon wieder im Sessel wegen furchtbarer Schmerzen. O Herr, gib Geduld und einen Sinn, der spricht: Wer seinen Hochzeitstag schon vor sich sieht, der ist um andern Tand nicht mehr bemüht." Auf einem mit zitternder Hand an einem der letzten Schmerzenstage geschriebenen Blatt war zu lesen: „Die mit Tränen säen, werden mit Freuden ernten. Mein Gott! Führe mich zu dieser Freudenernte, nachdem Du mich in diese schwere Tränensaat geführt hast! Es ist genug, Herr, so nimm nun meine Seele!"
Wie er bereits im Laufe des Sommers in Beziehung auf eine schlichte Leichenfeier die nötigen Anordnungen getroffen, so blieb das künftige Schicksal seines gemütskranken Bruders Maximilian bis zu seinem Ende ein Gegenstand seiner treuesten Fürsorge. Mit großer Geduld und Nachsicht hatte er schon in Tübingen und nachmals in Stuttgart diesen in immer tiefere Geisteszerrüttung dahinsinkenden Unglücklichen getragen, mit viel Treue und Liebe, so lange ein Schimmer der Hoffnung zu seiner Wiedergenesung vorhanden war, an seiner Gemütsaufhellung gearbeitet. Bei seiner Übersiedelung nach Rielingshausen nahm er ihn in sein Haus auf, ein Entschluss, der, wie sich leicht denken lässt, nicht nur eine neue Sorgenlast, sondern auch bei den mancherlei Krankheitsausbrüchen, denen der Unzurechnungsfähige unterworfen war, eine Menge der erschütterndsten und angreifendsten Gemütsbewegungen in seinem Gefolge hatte. Der Selige wurde aber nicht müde, sondern wandte dem Unglücklichen namentlich seit dem Tod der Mutter eine verstärkte Liebe zu. Er konnte nicht sterben, bis er über das künftige Los desselben volle Beruhigung hatte, die ihm denn auch namentlich vom ältesten Bruder, der ihn in seiner Krankheit öfters besuchte und auch bei seinem Tod anwesend war, auf die befriedigendste Weise gewährt wurde.
In den letzten 24 Stunden, als die Beklemmungen der Brust immer höher stiegen, bat er seine Umgebung mehrmals mit lispelndem Munde, den Herrn dringend um seine Auflösung anzuflehen. Am Morgen des 18. Nov. wiederholte er diese Bitte mit einer gewissen Hast unter dem Anfügen: „Jetzt kann ich es nicht mehr aushalten!" Auf die Erwiderung, er werde doch jetzt nicht erst zaghaft werden wollen, da er so nahe am Ziel sei; der Herr sei bisher so treu gegen ihn gewesen und habe ihn nicht versucht werden lassen über Vermögen; auch in diesen letzten paar Stunden werde Er gewiss ihm vollends durchhelfen, feuchteten sich augenblicklich seine Augen und eine Träne der Buße glitt über seine Wangen unter den Worten: „Dass ich nur so etwas Ungeduldiges denken, geschweige reden konnte!"
Später verlangte er einen Zuspruch aus einem Erbauungsbuch für alle Tage des Jahres, das gerade zur Hand war. Sein Bruder schlug den 18. Nov. auf: „Wo ich bin, da soll mein Diener auch sein!" lautete der auf diesen Tag verzeichnete Bibelspruch. Diese trostreiche Verheißung sowie die wiederholte Versicherung, dass sein Ende gewiss nicht mehr fern sei und er den Abend des Tages wahrscheinlich im Himmel feiern dürfte, machte einen tiefen, wahrhaft erfreuenden Eindruck auf ihn. Man bot ihm an, ihn zu Bett zu bringen, damit er wenigstens in einer besseren Körperlage sterben könne. Er lehnte es ab mit der Bemerkung: „Ich sterbe euch sonst unter den Händen unterwegs." Einmal nahm er zu seiner Erquickung etwas kaltes Wasser zu sich; aber sogleich fragte er, ob er sich damit nicht schade, denn er wolle und dürfe sich, wenn es schädlich sei, das Ende um keine Minute beschleunigen.
Gegen 12 Uhr Mittags trat mehr Ruhe ein; die Kräfte sanken schnell; er fühlte die Annäherung des Todes. Nach 2 Uhr sprach er: „Ich wandle im Todestale." Auf den Zuspruch, dass der Herr sein Stecken und Stab sei, erwiderte er freundlich: „Ich fürchte mich nicht." Bald darauf arbeitete er seine längst kalten, starren Hände über ihre Bedeckung hervor, um sie, so gut er noch konnte, zu falten, und lispelte: „Betet, betet!" Nun wurden unter Handauflegung über ihn zuerst der Segen des dreieinigen Gottes und dann noch folgende Heimgangsverse gesprochen:
Herr mein Hirt! Brunn aller Freuden!
Du bist mein, ich bin Dein,
Niemand kann uns scheiden.
Ich bin Dein, weil Du Dein Leben
Und Dein Blut, mir zugut,
In den Tod gegeben.
Du bist mein, weil ich Dich fasse,
Und Dich nicht, o mein Licht,
Aus dem Herzen lasse.
Lass mich, lass mich hingelangen,
Da Du mich und ich Dich
Ewig werd' umfangen.
Wann es am allerbängsten
Mir wird um's Herze sein,
So reiß mich aus den Ängsten
Kraft Deiner Angst und Pein!
Wenn mein Herz bedenkt,
Dass es ist besprengt
Mit des Heilands Blut,
Hoch es sich erfreut,
Und den Tod nicht scheut,
Stirbt mit gutem Mut.
Bis hierher war er stets bei vollem Bewusstsein, was er deutlich an den Tag legte. Seine Lippen bewegten sich zuletzt noch, um das Wort: „Heiland! Heiland! " lispelnd auszusprechen.
Da stockte der Atem, und er entschlief sanft und in stillem Frieden Gottes den 18. Nov. 1828, nachmittags 2½ Uhr.
Die Zeit seiner Wallfahrt auf Erden dauerte nur 30 Jahre, 7 Monate, 3 Tage. Zur Erde bestattet wurde er den 21. November nachmittags; zwei seiner Freunde sprachen Worte des Lebens dabei; sein Leib harrt neben dem der Mutter der Auferstehung entgegen, ein einfacher Gedächtnisstein deckt beider Gräber. Auch im Tod sind sie beide geeinigt, die das Leben so fest verbunden hatte. Nun wird er vom Siege singen und einstimmen in das Triumphlied der vollendeten Gerechten.
Er wird nun Freudengarben bringen,
Denn seine Tränensaat ist aus.
Welch' heller Jubel wird erklingen
Und süßer Ton im Vaterhaus!
Schmerz, Seufzen, Leid, Tod und dergleichen
wird müssen flieh'n und von ihm weichen;
Er wird nun seinen König seh'n.
Der wird beim Brunnen ihn erfrischen,
Die Tränen von dem Auge wischen.
Wer weiß, was sonst noch wird gescheh'n!
Zum Andenken
An den Unvergesslichen
Abrahams Geschlecht kann sterben,
Doch nicht in Todesnot verderben,
Das Sterben ist ihm nur Gewinn;
Kreuzgestalt für äuß're Sinnen,
Doch lichte Herrlichkeit von innen -
So fährt der Geist zu Christo hin.
Nach bangem Pilgerlauf
Tut sich die Heimat auf
Himmlisch helle!
Der Leib zerstäubt;
Das Leben bleibt
Dem Lebensfürsten eingeleibt.
O was dann im Haus der Wonne? -
Das schaut kein Aug' - vor jener Sonne
Senkt sich ein Vorhang noch hinab.
Aber sehet hin! Wir haben
Den Lehrer und den Freund begraben,
Wie Gott der Welt nicht viele gab.
Groß war des Lebens Müh';
Drum nahm sein Gott ihn früh
In die Arme;
Da darf er nun
Im Frieden ruhn;
Wie wohl wird ihm die Ruhe tun!
Ach, wer so im Frieden ruhte,
Wie er, der viel Geprüfte, Gute,
Des Hügel nun erhoben steht!
Mit dem Fleisch ward nichts gesprochen,
Da er sich seine Bahn gebrochen
Und einen Führer sich ersieht!
„Für einen ew'gen Kranz
Mein armes Leben ganz!“,
War die Losung;
Ganz war der Mann,
Da er begann;
Ganz, da sein Lebenshauch zerrann.
Ganz hat Jesus ihn gezogen,
Mit Liebeskräften überwogen
Und Sich erbarmend ihm vermählt;
Dann sah man die Flamme steigen,
Sah, wie Er diesen treuen Zeugen
Von Mutterleibe sich erwählt;
Zu schöner Ritterschaft
Mit großer Heldenkraft
Ihn umgürtet;
Dann floss sein Wort
Im heil'gen Ort
Wie eine Lebensquelle fort.
Zeugt es, die ihr ihn gehöret,
Ihr Väter, die er einst gelehret,
Ihr Mütter, die ihr ihn beweint!
Zeugt, ihr Töchter und ihr Söhne,
Die er durch seine mächt'gen Töne
Erweckt und um das Kreuz vereint!
Ich weiß, ihr zeuget gern:
Der war ein Licht im Herrn,
Schön und herrlich!
Und dennoch klein,
Weil er allein
Vom Herrn erborgte seinen Schein.
Wie er einst mit sanften Mienen
In Gottes Haus dem Volk erschienen,
Vergessen werdet ihr es nicht;
Demut, Friede, Lieb' und Feuer
Für seinen Mittler und Befreier,
Das sprach aus seinem Angesicht;
Da drang durch manches Herz
Wohl ein zweischneidig Erz,
Wenn er dastand
Und Sündentrug
Und Hoffahrtsflug
Mit Waffen Gottes niederschlug!
Wenn, von Inbrunst übernommen,
Sein Geist zu Jesu Kreuz gekommen
Und niedersank auf Golgatha:
Dort war seine Lieblingsstätte,
Wenn nichts mehr ihn erfreuet hätte:
Dort sang er noch Hallelujah!
Dort fand er seinen Gott,
Dort Heilkraft für die Not
Aller Sünden;
Dorthin gewandt
Hob er die Hand
Und wies den Weg zum Vaterland.
Heimweh nach dem Vaterlande,
Der Wehmut Hauch im Schwachheitsstande -
Wen hat's nicht angeweht bei ihm?
„O der Wonne, heil sich wissen,
Nicht mehr den Herrn betrüben müssen,
Daheim bei Seinen Seraphim,
Vollendet, rein und schön
Durch Seine Himmel geh'n
Und Ihn schauen!“ -
Davon entglüht
War sein Gemüt,
Das war sein Lenz, der ewig blüht!
Denn kein Frühling sollt' ihm werden
In dieser Welt; ihm ward' auf Erden
Ein reiches Leidensmaß gehäuft;
Große Last bei sel'ger Gnade -
So wurden seine Lebenspfade
Mit stillen Tränen wohl beträuft.
Die Eltern gingen hin -
In Krankheit sah'n wir ihn
Früh hinwelken;
Doch war die Last
Still aufgefasst;
Hinieden wollt' er keine Rast.
Das ist heil'ges Zeugenleben,
So hat er ganz sich hingegeben
Und Wege seinem Gott gemacht;
Nicht bald Eigenwerk, bald Gnade,
Bald breiten Weg, bald schmale Pfade
Nicht salbungsloser Worte Pracht!
Schmach hätt' ihn das gedäucht!
In leere Luft gestreicht
Hat er niemals.
Wer Christum kennt
Und für Ihn brennt,
Der bleibt in diesem Element.
Also wusst' er, Wem er lebte;
Wonach er zielte, rang und strebte,
Was war es? - Neue Kreatur!
Den erkennen, suchen, lieben,
Der, von Barmherzigkeit getrieben,
Aus Gottes Himmeln niederfuhr,
Der sich zum Bürgen bot,
Der unsern Fluch und Tod
Sterbend wegnahm -
Das lehrt er sich,
Das lehrt er dich -
Ja, lieben lehrt er dich und mich.
Heil'ge Liebe! Wo Du glühest,
Wo Du ein Herz nach oben ziehest,
Wes ist der Ruhm? Nur Dein, nur Dein!
Was aus diesem Geist geflossen,
Was wir in ihm geliebt, genossen,
Dafür sollst Du gepriesen sein!
Er wollte keinen Ruhm;
In Deinem Heiligtum
Gilt kein Selbstlob;
Was Du gelehrt,
Was Du beschert
Das nur war ihm des Ruhmes wert.
Ja, in Dich, o Liebe, strömen,
Wenn Menschen von Dir Gnade nehmen,
Die Quellen Deines Heils zurück.
Seine Lieb' und Herzensstille,
Sein Dulden, sein gebroch'ner Wille,
Der tiefe Geist in seinem Blick,
Der treue Zeugensinn,
Der Reichtum, der Gewinn
Vollen Glaubens -
Du hast durch ihn
Es uns verlieh'n;
Nun, Jesu, nimmst Du's wieder hin.
Ihm ist ewig nichts verloren;
Durch Sterben ward er ausgeboren
Zu Deiner Lebensherrlichkeit;
Still, vereint mit Dir, dem Sohne,
Im Blick auf Deine Dornenkrone,
So ging der Pilger aus der Zeit;
Ging durch das Todestal
Im lichten Hoffnungsstrahl
Ohne Fürchten;
Ernst war der Gang!
Doch hat nicht bang,
Wer schon mit Dir zum Leben drang.
Der Du uns und ihn versöhnet,
Mit Heil sein sterbend Haupt gekrönet
Und deinen Knechten herrlich lohnt:
Lass uns einst in Deinen Händen,
O Herr, wie diesen Bruder enden
Und dorthin kommen, wo Du wohnst,
Wo selig blühend steht,
Was Deine Hand gesät.
Er wird blühen!
Wir beten an -
Licht ist die Bahn.
Fahr wohl, mein Bruder Jonathan!
A.Knapp