Predigt 2 am zweiten Sonntag des Advents:

Das zukünftige letzte Gericht

Text: Matthäus 25,21-46

„Wenn aber des Menschen Sohn kommen wird in Seiner Herrlichkeit und alle heiligen Engel mit Ihm, dann wird Er sitzen auf dem Stuhl Seiner Herrlichkeit; und werden vor Ihm alle Völker versammelt werden. Und Er wird sie voneinander scheiden, gleich als ein Hirte die Schafe von den Böcken scheidet; und wird die Schafe zu Seiner Rechten stellen und die Böcke zur Linken. Da wird dann der König sagen zu denen zu Seiner Rechten: Kommt her, ihr Gesegneten Meines Vaters, ererbt das Reich, das euch bereitet ist von Anbeginn der Welt. Denn Ich bin hungrig gewesen, und ihr habt Mich gespeist. Ich bin durstig gewesen, und ihr habt Mich getränkt. Ich bin ein Gast gewesen, und ihr habt Mich beherbergt. Ich bin nackt gewesen, und ihr habt Mich bekleidet. Ich bin krank gewesen, und ihr habt Mich besucht. Ich bin gefangen gewesen, und ihr seid zu Mir gekommen. Dann werden Ihm die Gerechten antworten und sagen: Herr, wann haben wir Dich hungrig gesehen und haben Dich gespeist? Oder durstig und haben Dich getränkt? Wann haben wir Dich einen Gast gesehen und beherbergt? Oder nackt und haben Dich bekleidet? Wann haben wir Dich krank oder gefangen gesehen und sind zu Dir gekommen? Und der König wird antworten und sagen zu ihnen: Wahrlich, Ich sage euch: Was ihr getan habt einem unter diesen Meinen geringsten Brüdern, das habt ihr Mir getan. Dann wird Er auch sagen zu denen zur Linken: Geht hin von Mir, ihr Verfluchten, in das ewige Feuer, das bereitet ist dem Teufel und seinen Engeln. Ich bin hungrig gewesen, und ihr habt Mich nicht gespeist. Ich bin durstig gewesen, und ihr habt Mich nicht getränkt. Ich bin ein Gast gewesen, und ihr habt Mich nicht beherbergt. Ich bin nackt gewesen, und ihr habt Mich nicht bekleidet. Ich bin krank und gefangen gewesen, und ihr habt Mich nicht besucht. Da werden sie Ihm auch antworten: Herr, wann haben wir Dich gesehen hungrig oder durstig oder einen Gast oder nackt oder krank oder gefangen, und haben Dir nicht gedient? Dann wird Er ihnen antworten und sagen: Wahrlich, Ich sage euch: Was ihr nicht getan habt einem unter diesen Geringsten, das habt ihr Mir auch nicht getan. Und sie werden in die ewige Pein gehen; aber die Gerechten in das ewige Leben.“

Dass ein Gericht, eine göttliche Entscheidung unseres ewigen Schicksals, die durch unser inneres und äußeres Verhalten in dieser Welt bestimmt wird, auf uns warte, wovon unser Evangelium ausführlichen Bescheid gibt, das braucht man den Menschen nicht zu beweisen. Eine tiefe Ahnung dieses zukünftigen Gerichtes ist dem Menschen in das Herz geschrieben. Auch die Heiden, die noch nichts vom Gesetz wissen, haben diese Ahnung. Denn ihre Gedanken, die sich in ihrem Herzen untereinander entschuldigen und verklagen, zielen auf einen Tag hinaus, an welchem Gott das Verborgene der Menschen richten wird durch Jesus Christus (Römer 2,15.16). Jede inwendige Bestrafung unseres Gewissens ist eine Anzeige davon, dass ein Gerichtstag bevorstehe. Die Lehre vom Jüngsten Gericht gehört darum auch unter die Lehren, welche die Menschen leicht glauben. Ein natürlicher Mensch kann sie glauben; es gehört eben keine Erleuchtung des Heiligen Geistes dazu. Das Gewissen des natürlichen Menschen ist Zeugnis genug für die Wahrheit dieser Lehre.

Aber die Menschen sind Lügner; auch die natürlichen, schon durch Vernunft und Gewissen begründeten Wahrheiten würden nach und nach unter ihren unreinen Händen entstellt, durch Betrug der Sünde verdunkelt, durch die Bosheit und Täuscherei der finsteren Kräfte verkehrt oder ganz in Vergessenheit gebracht werden, wenn nicht Gott von jeher diesem Unheil vorgebeugt hätte. Wie weit es die menschliche Verkehrtheit in dieser Hinsicht treiben könne, davon haben wir ein wichtiges Beispiel an dem Weg aller Heiden. Lest das erste Kapitel des Briefes an die Römer und erkennt daraus, wie durch den Unverstand, die Finsternis und die Bosheit der Menschen die Offenbarung, die Gott von Seiner ewigen Kraft und Gottheit in der Schöpfung gegeben hat, in Lüge und Torheit verwandelt worden ist. Und wahrlich, auch unsere Zeit ist an dem Punkt, durch die überhand nehmende Ungerechtigkeit und Lüge unter dem Schein der Weisheit sogar das, was man natürlicherweise durch das Gewissen, die Vernunft und den gesunden Menschenverstand wissen kann, zu verkehren und zu verdrehen.

Weil nun der himmlische Vater gesehen hat, dass wir Menschen verkehrten Herzens und von dem Geist der Lügen durchdrungen sind; weil Er gesehen hat, dass auch die Lehre von einem künftigen Gericht, welche doch tief in des Menschen Herz eingeschrieben ist, nach und nach durch Ungehorsam gegen die Wahrheit würde verdunkelt oder gar verdrängt werden, so hat Er es den Menschen von jeher sagen lassen, dass ein Gericht auf sie warte. So hat schon Henoch, der Siebente von Adam, vom zukünftigen Gericht geweissagt (Judas 14.15); so finden wir diese Lehre von einem zukünftigen Tag des Herrn häufig im Alten Testament ausgesprochen, z. B. Prediger 12,14; Daniel 7,10.26. Und im Neuen Testament haben der Heiland und Seine Apostel nicht bloß in der Stelle unseres Evangeliums, sondern auch sonst an vielen Orten ausführliche Zeugnisse davon niedergelegt. Doch eines der ausführlichsten Zeugnisse gibt unser heutiges Evangelium an die Hand. Wir wollen deshalb dasselbe genau betrachten, und ich will euch mit Gottes Hilfe vorstellen:

Das zukünftige letzte Gericht.

Wir wollen hierbei ins Auge fassen

I. den Richter und die, welche gerichtet werden;

II. den Maßstab, nach welchem gerichtet werden wird;

III. den Ausspruch oder das Urteil des Richters.

O Jesus, Du Richter allen Fleisches, hilf uns, dass wir uns von Deinem Wort und Geist hier schon richten lassen, damit wir nicht dem unerträglichen Zorn Gottes anheim fallen! Amen.

I. Liebe Zuhörer! Gegenwärtig ist es noch nicht so in der Welt, wie es sein wird, wenn unser heutiges Evangelium einmal in Erfüllung geht. Gegenwärtig ist noch alles untereinander, Gute und Böse, Gläubige und Ungläubige, Kinder Gottes und Kinder der Welt, Schafe und Böcke. Alles läuft in bunter Mischung durcheinander. Des Menschen Sohn, der nach unserem Evangelium in der Herrlichkeit kommen wird, ist gegenwärtig noch von einigen geachtet, von anderen verachtet;einige glauben an Ihn, andere glauben nicht an Ihn; vielen ist Er der gleichgültigste Mann. Die Gesegneten des Vaters, welche das Reich ererben sollen, das ihnen bereitet ist von Anbeginn der Welt, sind noch verborgen, man kennt sie nicht; man verkennt sie häufig; man schätzt sie gering; sie sind verachtete Lichtlein; sie sind Brüder und Schwestern Dessen, der auch einst durch die Welt ging, und die Welt kannte Ihn nicht, ob Er wohl der eingeborene Sohn des Vaters war. Die Verfluchten, die dann in das ewige Feuer gehen müssen als Teilnehmer der Strafe des Teufels, sehen jetzt noch gar nicht solchen Verfluchten gleich; sie sind oft in äußerem Ansehen; sie sind oft in äußerem Wohlstand; sie lassen es sich oft wohl sein in dieser Welt; sie sind oft als die rechtschaffensten, ehrlichsten, klügsten, sogar menschenfreundlichsten Leute geachtet; ja, sie stehen oft im Anschein der Frömmigkeit; sie können oft über die Maßen gut vom Christentum und vom Heiland reden; sie können oft recht schön beten; man hält sie oft für Schafe, ob sie gleich nichts sind denn Böcke. So geht alles dahin in dieser Weltzeit; der Böse ist weiterhin böse, und der Unreine ist weiterhin unrein; der Fromme aber ist weiterhin fromm, und der Heilige ist weiterhin heilig; es geht alles in einem Zuge fort; man sieht es dem Betragen der Menschen nicht an, dass es auf eine so ernstliche Entscheidung hinausziele; man sieht es dieser Weltzeit nicht an, dass sie eine Saatzeit ist, auf welche eine so ernsthafte, eine so feierliche Ernte folgen werde. Der Tag der Offenbarung, des Gerichts, der Scheidung und der Entscheidung ist noch nicht gekommen.

Aber dieser Tag wird kommen. So gewiss wir ein Gewissen in uns haben und Gedanken, die sich untereinander verklagen und entschuldigen; so gewiss Jesus das erste Mal in Seiner Niedrigkeit erschienen, so gewiss Er von den Toten auferstanden und zum Vater gegangen ist; so gewiss von Seinen Worten bis jetzt keines gefehlt hat: so gewiss wird auch dieses Wort nicht fehlen; der Tag wird kommen, der Tag, der brennen soll wie ein Ofen, an welchem die Gottlosen und Verächter werden Stroh sein, der Tag, an welchem der Schlangensame und der Weibessame wird auseinander gelesen und diesem die ewige Freude, jenem aber die ewige Pein wird zugewiesen werden. Des Menschen Sohn wird kommen in Seiner Herrlichkeit und alle heiligen Engel mit Ihm; und Er wird sitzen auf dem Stuhle Seiner Herrlichkeit, und es werden vor Ihm alle Völker versammelt werden; und Er wird sie voneinander scheiden, gleichwie ein Hirte die Schafe von den Böcken scheidet.

Wie ganz anders wird es dann sein, als es vor 1800 Jahren war und als es jetzt noch ist! Vor 1800 Jahren kam Jesus als ein armer Mensch; als Er zu den Toren von Jerusalem einritt, konnte ein Weltauge von Seiner Herrlichkeit wenig oder nichts sehen. Bald darauf übergab Er sich in die Hände Seiner Feinde, die den Mutwillen und die Bosheit ihres finsteren Herzens an Ihm verüben durften; Er starb am Kreuz, wie ein Missetäter stirbt - nackt, in der alleräußersten Verachtung hing Er da am Kreuz, zum Spott und Hohn Seiner Feinde, und starb. Aber auch jetzt noch sieht ein Weltauge nichts oder wenig von Seiner Herrlichkeit; Er hat sich verborgen in Gott; Sein Reich ist ein Kreuzreich; Sein Leben ist allenthalben unter der Schwachheit des Fleisches versteckt, durch die Erniedrigungen des Kreuzes verächtlich gemacht vor den Augen der stolzen Welt. Die Welt mit ihrer Lust, mit ihrer vergänglichen Pracht und Hoheit, ja, das glänzt in die Augen, das brüstet sich - aber die Herrlichkeit des Reiches Jesu zu sehen, dazu gehören schon andere Augen, als die Vernunft hat; es muss geoffenbart sein vom Vater; denn diese Herrlichkeit ist verborgen, ist inwendig, ist eine Herrlichkeit des Glaubens; und was man glaubt, das sieht man nicht.

Aber es wird anders werden an jenem Tag. Des Menschen Sohn wird kommen in Seiner Herrlichkeit. In der Herrlichkeit, die Er hatte, ehe die Welt war; die Er nun wieder angenommen hat, seit Er sich gesetzt hat zur Rechten der Kraft; mit dieser Herrlichkeit wird Er aus Seiner Verborgenheit herausbrechen, und es werden Ihn sehen aller Augen. Der Mann, welcher in Bethlehem geboren wurde, der schon in Seiner Kindheit vor Herodes fliehen musste; der Mann, welcher in Nazareth mit Seinem Pflegevater auf dem Handwerk arbeitete; der Mann, welchen Sein Volk von sich stieß; der Mann, den sie ins Angesicht schlagen durften mit den Worten: „Weissage uns, Christus, wer ist es, der Dich schlug?"; der sich unter allen diesen Misshandlungen und Bosheiten als das sanftmütigste Lamm bewies; der unbekannte Mann, den ich euch immerwährend predige, der aber allen weltlich gesinnten Menschen unbekannt ist und bleibt und mit dem Hereindringen des Geistes dieser Zeit es immer mehr wird: dieser Jesus von Nazareth wird wiederkommen in Seiner Herrlichkeit. Er wird wiederkommen in dem Leib, den Er auf Erden an sich getragen hat; in dem Leib, der die Gestalt des sündigen Fleisches hatte; als Menschensohn wird Er wiederkommen; an Seinen fünf Wunden, die Er noch an sich trägt, die Er in die Unvergänglichkeit Seines Wesens aufgenommen hat als ewige Zeugnisse dafür, dass Er der Hohepriester der Menschheit ist - an Seinen fünf Wunden wird man Ihn erkennen. Aber sie werden nicht mehr von Blut triefen wie auf Golgatha, sondern sie werden mit unendlicher Gottesmajestät und Herrlichkeit allen Menschen in die Augen leuchten; den Gläubigen zwar zu unbeschreiblicher Freude, den Ungläubigen aber zu schreckenvoller Pein. - „Diese" - heißt es - „werden sehen, in wen sie gestochen haben, und werden heulen; ja heulen werden alle Geschlechter der Erde" (Offenbarung 1,7).

So wird Er kommen vom Himmel mit einem Feldgeschrei, mit der Posaune Gottes und mit der Stimme des Erzengels; alle heiligen Engel werden mit Ihm sein. Diese, Seine Diener, deren Dienst Er verleugnet hatte, da Er in der Niedrigkeit des Fleisches wandelte; die Engel, die gleich bei Seiner Geburt ihre Loblieder sangen, die Ihn, da Er auffuhr zum Vater, mit Jauchzen empfingen (Psalm 47,6); diese tausend mal Tausende, die um Seinen Thron stehen und Ihm die Ehre geben - diese werden Ihn begleiten. Und dann wird Er sitzen auf dem Stuhl Seiner Herrlichkeit als der Richter.

Da werden dann vor Ihm versammelt werden alle Völker, beide, Kleine und Große, Knechte und Freie, Reiche und Arme, Gläubige und Ungläubige; alles, was Mensch heißt von Adam an bis auf den Letzten, der vor Seiner Ankunft geboren wird, wird vor Ihm stehen und Ihn sehen müssen. O meine lieben Zuhörer, da werden wir auch dabei sein; auch uns wird Seine Herrlichkeit in die Augen strahlen. Wird man da auch noch zweifeln können? Wird man da auch noch spotten können? Wird man da auch noch leugnen können? Wird man da auch noch die Nase rümpfen können über den Glauben an Sein Wort, wie man es hier getan und die Kraft Seines Wortes mit einem hochmütigen, selbstweisen Lächeln von sich abgewiesen hat? Oder wird man fliehen können, wie man etwa jetzt flieht vor der scharfen Zucht Seines Geistes, und mag nicht in die wüsten Abgründe seines Herzens und Lebens und dem treuen Heiland nicht in die Augen sehen? Wird man da auch noch heucheln oder sich schminken können? Wird man da auch noch seine Blöße decken können mit ein paar eitlen Trostgründen, womit man sich selbst getröstet hat, mit seiner selbst gemachten und selbst zusammengetragenen und zusammengeflickten Religion? Nein! - Sehen werden wir Ihn müssen; in Sein feuerflammendes, in Sein königliches, in Sein richterliches, sonnenhelles Auge werden wir hineinsehen müssen. Siehe, wenn du dich dann krümmst wie ein Wurm in der Sonnenhitze, wenn sie am Mittag brennt: hier musst du stehen; hier musst du aushalten; hier kannst du nicht von der Stelle weichen; hier musst du ins Licht und musst dich vom Licht richten und durchscheinen lassen; wie Jesus sich dann offenbaren wird, so musst auch du offenbar werden.

O liebe Zuhörer, jetzt kann noch mancher die Schande seiner Blöße verbergen und sich und andere mit Heuchelschein betrügen. Es befindet sich gegenwärtig noch mancher unter den Schafen, der eigentlich seinem Herzensgrunde nach ein Bock ist; ja, mancher steht selbst in dem Wahn, als ob er zur Herde Christi gehöre, ob er gleich nicht dazu gehört; durch lang getriebenen Ungehorsam gegen die Zucht des Geistes kann man es endlich bis zu diesem Selbstbetrug bringen. Es ereignet sich auch zuweilen in dieser Welt, dass ein Bock vor einer Herde Schafe einhergeht in Schafskleidern und leitet sie und führt sie an und ist doch ein Bock. Aber wenn Jesus kommen wird in Seiner Herrlichkeit, dann wird es nicht mehr so sein. Er wird sie voneinander scheiden gleichwie ein Hirte die Schafe von den Böcken scheidet. Der Anblick des Königs wird jedem sein Urteil zum Voraus sprechen; Seine Sonnenaugen, die unsichtbare Gottesgewalt, die Ihn umgibt, wird jedem seine Stelle anweisen; mit unwiderstehlicher Macht wird jeder hingetrieben werden zur Rechten oder zur Linken. Da werden die Masken herunterfallen; die Maske der bürgerlichen Ehrbarkeit und Rechtschaffenheit, die Maske der sogenannten Bildung, die Maske des vergänglichen Reichtums oder des höheren Standes, die eigenliebige, selbst gesponnene Tugendmaske, alles wird weichen; nur die Kleider der Gerechtigkeit Christi werden den Flammenblick des Richters ertragen; wer aber diese nicht wird aufweisen können, der wird dastehen in der Schande seiner Blöße; da sind wir alle, wie wir sind, und werden um kein Haar besser aussehen, als wir sind. Deine Gedanken, deine Anschläge, deine verborgenen Herzensgedanken und Begierden, alles, was die Finsternis bedeckt oder dein Mund als dein tiefstes Geheimnis verschwiegen hatte, dein ganzer inwendiger Mensch samt allen seinen Werken und Früchten wird äußerlich - wird offenbar; bist du in der Wahrheit ein Schaf gewesen in dieser Welt, so wirst du unter den Schafen stehen; bist du ein Bock gewesen, so wirst du auf die linke Seite gehen müssen, du magst wollen oder nicht; denn bei Gott ist kein Ansehen der Person.

„Wir müssen offenbar werden vor dem Richterstuhl Christi," sagt Paulus. O das ist ein schreckliches, Mark und Bein durchschneidendes Wort. Es kommt eine Zeit, wo das Scheinen aufhört. Wer bedenkt das recht? Was meinst du - wenn nur das, was in deinem Herzen seit gestern Abend bis diesen Morgen vorgegangen ist, was du gedacht, gefühlt, in deine Einbildungskraft aufgenommen hast in dieser kurzen Zeit, ich sage, wenn nur dieses Stück deines inneren Lebens vor dieser ganzen Versammlung herausgesagt, allen diesen Menschen preisgegeben würde -- wie viele sind unter uns, die, wenn ihnen solches geschähe, sich nicht entsetzen, nicht zittern, nicht in den Boden sinken müssten vor Scham! An jenem Tage aber wirst du mit deinem ganzen Leben, mit der wahren Gestalt deines Herzens offenbar werden, du selbst mit deinem ganzen Wesen wirst offenbar werden. Was ist eine zeitliche Schande, welcher doch die Menschen, auch die groben Sünder und Übeltäter, so eifrig zu entgehen suchen, im Vergleich mit der großen Schande jenes Tages? Was ist eine zeitliche Ehre, welche doch die Menschen so eifrig suchen, im Vergleich mit der Ehre jenes Tages?

II. Wenn nun die Böcke von den Schafen geschieden sein werden, dann wird der Richter anheben zu richten. Aber nach welchem Maßstab wird Er es tun?

Wird Er nach unserem guten Namen fragen, den wir unter den Menschen gehabt haben? Oder wird Er danach fragen, ob du ein guter Haushalter oder eine gute Haushälterin gewesen bist? Oder wie oft du zur Kirche und zum heiligen Abendmahl gegangen bist? Oder ob du dich zu den sogenannten Frommen gehalten hast? Liebe Zuhörer, diese Dinge sind alle gut, aber danach wird der Richter doch nicht hauptsächlich fragen. Was meint ihr? Meint ihr, es werde sich darum handeln, ob wir das Christentum und den Glauben an den Heiland gut im Kopf gehabt haben? Oder meint ihr, der Richter allen Fleisches werde Schule halten an Seinem großen Tag und uns über die Sprüche abhören, die wir auswendig können? Oder meint ihr, das werde den Ausschlag geben, wenn wir von dem Christentum gut reden oder schwatzen konnten? Ja, es wird einen Ausschlag geben in der Waage des Richters, einen mächtigen Ausschlag, wenn wir aus Seiner Heilslehre, aus Seinem Evangelium ein Geschwätz gemacht haben, ein saft- und kraftloses Geschwätz, wenn wir die Gottseligkeit für ein Gewerbe gehalten und handwerksmäßig getrieben haben; aber der Ausschlag wird nicht zu unsrem Vorteil ausfallen, sondern zum ewigen Schaden.

Wonach wird denn der König vornehmlich fragen? Antwort: Zu denen zu Seiner Rechten wird Er sagen: „Ich bin hungrig gewesen, und ihr habt Mich gespeist; Ich bin durstig gewesen, und ihr habt Mich getränkt; Ich bin ein Gast gewesen, und ihr habt Mich beherbergt; Ich bin nackt gewesen, und ihr habt Mich bekleidet; Ich bin krank gewesen, und ihr habt Mich besucht; Ich bin gefangen gewesen, und ihr seid zu Mir gekommen. Denn was ihr getan habt einem unter diesen Meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan.“ Zu denen zu Seiner Linken aber wird Er sagen: „Ich bin hungrig gewesen, und ihr habt Mich nicht gespeist; Ich bin durstig gewesen, und ihr habt Mich nicht getränkt; Ich bin ein Gast gewesen, und ihr habt Mich nicht beherbergt; Ich bin nackt gewesen, und ihr habt Mich nicht bekleidet; Ich bin krank und gefangen gewesen, und ihr habt Mich nicht besucht. Denn was ihr nicht getan habt einem unter diesen Geringsten, das habt ihr Mir auch nicht getan." Wie sollen wir dies verstehen?

Es hat in unseren Tagen Leute gegeben und gibt noch solche, die das ganze Christentum in diese guten Werke, welche der Heiland hier anführt, in ein menschenfreundliches, artiges, gefälliges, mit Werken der Liebe gegen den Nächsten verbundenes Betragen gesetzt haben und noch setzen. Sie sagen: „Auf das Glauben kommt es eben nicht an, sondern auf das Tun; glaube, was du willst; tue, was du kannst." Sie berufen sich, um ihrem Irrtum einen rechten Anstrich zu geben, eben auf solche Stellen in der Heiligen Schrift, wie die ist, die wir heute betrachten, und wollen behaupten, man sehe es ja hier gar zu deutlich, dass der Heiland auch alles auf Liebeswerke setze. Liebe Zuhörer, es ist hier der Ort nicht, diesen groben Irrtum zu widerlegen; es ist auch nicht der Mühe wert. Das wissen wir doch alle, dass einem hungrigen Menschen ein Stück Brot reichen oder einem Durstigen einen Trunk Wasser oder hin und wieder einen Kranken besuchen oder überhaupt seinem Nächsten Gefälligkeiten erweisen - das wissen wir, sage ich, dass dies alles noch keinen Christen macht. Dies alles wird und muss ein wahrer Christ tun, ja noch mehr als dieses; geizig und hart gegen den Nächsten sein und ein Christ sein, das taugt nimmermehr zusammen. Aber wenn auch ein Mensch nicht geizig ist, so ist er doch darum noch kein wahrer Christ. Wie viele Leute gibt es in der Welt, die gutherzig und wohltätig sind gegen Arme und Elende und Barmherzigkeit üben, ja, die für Menschenfreunde gelten und sind doch Kinder der Hölle, zwiefältig mehr denn andere. Merkt also wohl: So dürft ihr die Worte unseres Evangeliums nicht verstehen, als ob der Heiland am Jüngsten Tag nach etlichen äußerlichen Werken richten werde. Das sei ferne von Ihm, der doch der gerechte Richter allen Fleisches ist. Würde Er danach richten, so wüsste ich nicht, warum überhaupt Menschen zu Seiner Linken stehen sollten. Denn es ist wohl kein Mensch in der Welt, der nicht hin und wieder einen Hungrigen gespeist oder einen Durstigen getränkt oder einen Kranken besucht hätte. Nein! Der Heiland wird an Seinem Tag ein viel tieferes, ein viel einschneidenderes Gericht richten.

Er wird sagen: „ Ich bin hungrig gewesen, und ihr habt Mich gespeist; Ich bin durstig gewesen, und ihr habt Mich getränkt. (…) Was ihr getan habt oder nicht getan habt einem unter Meinen geringsten Brüdern, das habt ihr Mir getan oder nicht getan." Auf die Worte: „Ich, Mich, Mir, Mein " müssen wir merken. Der Heiland wird also richten nach dem Sinne, den wir für Ihn und die Seinigen in dieser Welt gehabt haben. Und das ist ein Gericht, wodurch nicht die Oberfläche, sondern der Grund des Herzens gerichtet wird.

„Wer euch aufnimmt," - sagt der Heiland zu Seinen Jüngern - „der nimmt Mich auf, und wer Mich aufnimmt, der nimmt den auf, der Mich gesandt hat. Wer einen Propheten aufnimmt in eines Propheten Namen (darum, dass er ein Prophet ist) , der wird eines Propheten Lohn empfangen. Wer einen Gerechten aufnimmt in eines Gerechten Namen (darum, dass er ein Gerechter ist) , der wird eines Gerechten Lohn empfangen. Und wer einen dieser Geringsten nur mit einem Becher kalten Wassers tränkt in eines Jüngers Namen (darum, weil er ein Jünger ist) , wahrlich, Ich sage euch, es wird ihm nicht unbelohnt bleiben" (Matthäus 10,40-42).

O meine lieben Zuhörer! bedenkt dieses schwere, dieses nicht fleischliche, sondern geistliche, Herz und Nieren prüfende Gericht! Nicht die Größe oder äußere Gestalt unserer Handlungen gibt ihnen ihren Wert oder Unwert, sondern der Sinn, der darunter liegt: der Trieb, aus dem sie hervorgegangen sind, bestimmt ihr Gewicht. “Wenn ich alle meine Habe den Armen gäbe" - sagt der Apostel - „und ließe meinen Leib brennen, und hätte der Liebe nicht, so wäre es mir nichts nütze." Man kann vieles tun aus Rücksicht auf das Urteil anderer, oder auch, um den Forderungen, die man an sich selber stellt, Genüge zu leisten; man kann sich im Dienste Gottes und des Nächsten verzehren aus Eigenliebe und Eigengerechtigkeit, während man aus lauterer Liebe zum Heiland, aus einfältigem Gehorsam gegen Ihn, keinen Strohhalm vom Boden aufzuheben imstande ist. Wie ganz anders wird darum dieses Gericht ausfallen, als es sich der Weltsinn einbildet! Da wird mancher pharisäische Mensch, der Unzähligen geholfen hat und als Menschenfreund in ganzen Ländern bekannt war, zur Linken stehen müssen und dem Feuer zugewiesen werden, während der Heiland auf der anderen Seite einen Becher kalten Wassers, den man um Seinetwillen gereicht hat, ein Bekenntnis zu Ihm und Seinen geringsten Brüdern, das vielleicht nur in einem Blick oder Wort bestand, nicht unbelohnt lassen wird. Wen die Vernunft oft fromm und selig preist, den hat Er längst aus Seinem Buch getan; was aber nicht in die Augen fiel, was übersehen wurde, was wohl gar verächtlich angesehen wurde vom hochmütigen Weltgeist, was aus der Demut und dem lauteren Liebestrieb gegen den Heiland floss: das ist aufgezeichnet in die Bücher Gottes, das wird jener Tag offenbaren und der König aus Gnaden belohnen.

Wer ist denn nun tüchtig, solche Liebeswerke zu tun, die am Tag der Offenbarung bestehen mögen? Antwort: Nur die, welche durch lebendigen Glauben Christus einverleibt sind. Wenn ein Mensch Jesus Christus wahrhaftig im Glauben ergriffen hat, so hängt er auch mit ganzem Herzen an Jesus; alle seine Gedanken fließen auf Jesus zusammen, auf den treuen Heiland, der ihn vom ewigen Tod freigemacht und unverdient zur Seligkeit gebracht. In dieser herzlichen Liebe tut der Mensch alles um Jesu willen; er liebt Jesus in Seinen, wenn auch geringen und vor der Welt unansehnlichen Brüdern; er schämt sich dieser Glieder seines Heilandes mitten unter einem groben und verkehrten Geschlecht nicht; er überwindet und zerbricht seine liebste Lust, um dem Heiland zu gefallen; er überwindet um Jesu willen Geiz, Bequemlichkeitsliebe, Menschenfurcht, Menschengefälligkeit und alle die tiefen und verborgenen, oft vom Weltgeist als Weisheit gerühmten Stricke, die der Liebe gegen die Brüder und dem Bekenntnis zu der oft so unscheinbaren Sache des Heilandes im Wege stehen. So wird um Jesu willen der Hungrige gespeist, der Nackte gekleidet, der Durstige getränkt, der Kranke und Gefangene besucht; so werden noch viele andere Werke getan; man tut es um des Heilands willen, meint nicht, dass man etwas Sonderliches getan habe und vergisst es bald wieder.

Seht, das ist der Sinn, den wir haben müssen, wenn wir vom Richter unter die Gesegneten Seines Vaters gezählt werden wollen. Seine Reichssache muss unsere Herzenssache sein. Das Geschwätz vom Christentum bewirkt es nicht; auch das bewirkt es nicht, dass man aus Gewohnheit oder aus stinkender Eigenliebe dies und jenes Gute tue; ein Gewächs der Gerechtigkeit, ein Gewächs des Glaubens, der in Liebe tätig ist, ein Gewächs der Wiedergeburt muss in unseren Herzen sein, das die Prüfung dessen, der Augen hat wie Feuerflammen, aushalten kann. Wenn dieses nicht in uns erfunden wird an jenem Tage, so werden wir dem Feuer anheim fallen.

Und nun prüfe sich doch ein jeglicher, ob er in diesem Sinne stehe. Täusche sich doch ja keiner mit leeren Einbildungen! Siehe, wenn du nicht durch wahre Buße zum Glauben gekommen bist, wenn du nicht in der Gemeinschaft Jesu stehst, wenn du dich nicht täglich von Ihm im Geiste erneuern lässt, wenn du nicht unter der Zucht Seines Geistes stehst und durch tägliche ernstliche Buße und Vergebung deiner Sünden gehst – siehe, so hast du diesen Sinn nicht! Und wenn du diesen Sinn nicht hast, so bist du ein Kind des Verderbens, du seiest im Übrigen, wer du seiest. Nun prüfe dich doch, nun geh auch einmal in einen Ernst ein in deinem Christentum; nun lass es dir auch einmal ein rechtes Anliegen sein, dass du die Kraft Jesu Christi erfahren mögest; komm als ein armer Bettler zu Ihm, bis Er sich dir zu erkennen gibt! Siehe, es handelt sich um deine ewige Seligkeit; es ist wohl des Bittens und Anhaltens wert.

III. Denn was wird der König sagen zu denen zu Seiner Rechten? „Kommt her, ihr Gesegneten meines Vaters, ererbt das Reich, das euch bereitet ist von Anbeginn der Welt!" O liebe Zuhörer, was wird das sein, wenn man aus dem Munde des Königs diese Worte wird hören dürfen! Wenn Er uns „Gesegnete Seines Vaters" heißt! Leute, auf welchen der Fluch des Gesetzes gelastet hatte, dessen sie aber losgeworden sind durch den Glauben an Christus, auf welchen nun das wohlgefällige Auge des Vaters ruht. Was wird es sein, wenn man den Segen, wenn man das Reich ererben darf, das der Vater in Christus den Menschen bereitet hat; wenn das Wort des Königs in Erfüllung geht, das Er noch in den Tagen Seines Fleisches dem Vater in das Herz gesagt hatte: „Vater, Ich will, dass, wo Ich bin, auch die bei Mir seien, die Du Mir gegeben hast, dass sie Meine Herrlichkeit sehen, die Du Mir gegeben hast." Was wird das sein! Eingehen dürfen zur ewigen Ruhe, in die Stadt, wo kein Verbanntes, wo keine Sünde mehr ist, wo das Lamm innen ist und Seine Knechte, die Ihm dienen und Sein Angesicht sehen und nicht mehr hinausgehen müssen; ewig geborgen, ewig aufgehoben, aus aller Gefahr von innen und außen gerettet sein, im ewigen Königreich unseres Gottes, was wird das sein!

Da wird man Freudengarben bringen,
Denn uns're Tränensaat ist aus.
Welch' heller Jubel wird erklingen
Und süßer Ton im Vaterhaus!
Schmerz, Seufzen, Leid, Tod und dergleichen
Wird müssen flieh'n und von uns weichen;
Wir werden unsern König seh'n,
Er wird beim Brunnen uns erfrischen,
Die Tränen von dem Auge wischen,
Wer weiß, was sonst noch wird gescheh'n!

Aber wie schrecklich ist auch der andere Ausspruch aus dem Munde des Königs: „Geht hin, ihr Verfluchten, in das ewige Feuer, das bereitet ist dem Teufel und seinen Engeln!" Verfluchte nennt Er sie; in das ewige Feuer weist Er sie, das dem Teufel und seinen Engeln bereitet ist, nicht ihnen, denn Gott hatte sie nicht zum Zorn gesetzt, sondern die Seligkeit zu besitzen durch Jesus Christus; aber das hatten sie nicht gewollt. O es ist ein schrecklicher Ausspruch des Königs; es ist eine ganze Ewigkeit voll Zorns darin und kein Tröpflein Gnade darunter!

Liebe Zuhörer! Dies ist das Endurteil; bei diesem Urteil hat es sein ewiges Verbleiben; über wen dieses Urteil gefällt ist, über den fällt der Richter fernerhin kein Urteil mehr; wir lesen von keiner künftigen Abänderung oder Milderung in der Bibel. O lasst uns das wohl bedenken! Jetzt leben wir noch in der Gnadenzeit, in der Bußzeit, in der Zeit der Aussaat. Wenn ein Mensch bis heute auf verkehrtem Sinn gewesen wäre, und er würde heute umkehren und Gott ernstlich suchen, so kann er noch Gnade finden und noch sein Plätzchen zur Rechten erhalten. Dann aber, wenn der Tag des Herrn erscheint, ist solches vorbei, auf ewig vorbei; dann ist die Gnadenzeit verscherzt, auf ewig verscherzt; dann hat der Mensch sich selbst verloren, auf ewig verloren. Bedenkt, was das heißt: sich selbst, nicht sein Geld oder Gut, nicht seinen Leib, sondern sich selbst auf ewig, unwiederherstellbar verloren haben!

Ich weiß nicht, was uns nüchtern machen soll zu bedenken, was zu unserem Frieden dient, wenn es diese zentnerschwere Wahrheit nicht tut. Darum besinne sich, wer sich besinnen kann! Amen.